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Was kommt und was bleibt beim post-pandemischen Büro-Outfit? Klar ist eins: Der Dresscode im Business hat sich fundamental verändert.
Patricia Engelhorn
Der Trend zur neuen Lockerheit am Bürotag begann bereits vor einigen Jahren. Hier ein Foto aus Mailand im Jahr 2020.
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An einem sonnigen Sommermorgen wählt Fabiano Menghini ein schmal geschnittenes, hellblau-weiss gestreiftes Hemd zu einer anthrazitfarbenen Boss-Hose mit elastischem Bund und Tunnelzug. Dazu ein paar weisse Sneaker und wasserblaue Baumwollsocken. Er greift nach seinem Rains-Rucksack, lässt das Sakko im Schrank und fährt mit dem Velo ins Büro an die Zürcher Brandschenkestrasse. Der gebürtige Bündner ist einer der rund 200 Anwälte der Wirtschaftskanzlei Lenz & Staehelin, seit 2009 dabei, seit diesem Jahr als Partner im Bereich Real Estate.
Ein Anwalt in Sneakern? Ohne Krawatte? In einer der ältesten, grössten und renommiertesten Kanzleien des Landes? Fabiano Menghini lacht. «Vor Corona wäre dieses Outfit undenkbar gewesen», sagt er, «alle unsere eAnwälte trugen Anzug, Krawatte und Halbschuhe, auch wenn sie den ganzen Tag im Einzelbüro sassen und arbeiteten». Heute läuft die Mehrheit seiner Kollegen in Turnschuhen herum – erst recht, seit Lenz & Staehelin 2021 den Börsengang von On Running begleitete und jeder Mitarbeiter ein Paar Laufschuhe geschenkt bekam. Der Veston bleibt jetzt oft zu Hause, die Krawatte fast immer. Dafür kommen andere Teile zum Einsatz: Jackett und Hose in frei gewählter Kombination, ein dunkles T-Shirt oder ein Pulli unter dem Sakko, sogar schwarze Jeans. Würde man so auch zum Kundentermin gehen? «Eher nicht», sagt Menghini,«ausser, man kennt den Klienten gut und weiss, dass auch er leger gekleidet sein wird». Ansonsten gilt in Anwaltskreisen: Anzughose, Hemd, Halbschuhe, Sakko. Wenn's wirklich formell sein soll, kommt die Krawatte dazu. «Mehr aus Respekt und Höflichkeit», erklärt Menghini, «denn bei uns wurde die inoffizielle Krawattenpflicht schon vor zwei Jahren ganz offiziell mit einer E-Mail vom Managing Partner beendet». Damit ist die wohl letzte Bastion konservativer Krawattenträger gefallen: Anwaltskanzleien, Inbegriff des «formal dressing».
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Covid hat den Dresscode im Büro verändert. Nach zwei Jahren mit Lockdowns, Homeoffice, Zoom-Meetings und entsprechend bequemer Garderobe möchte kaum jemand zum zugeknöpften Hemdkragen zurück – die gemütliche Joggpants geht aber auch nicht. Die Zwischenlösung ist ein post-pandemisches «new formal», das weniger steif, weniger streng, weniger strikt ist als JENE UNIFORMEN, die zuvor im seriösen Office getragen wurden. Wobei «seriöses Office» ohnehin kaum noch definierbar ist, auch ohne Corona: «Früher war das modische Vorbild die Wall Street, jetzt ist es das Silicon Valley», sagt Carl Tillesen, Autor und Trendanalyst des Deutschen Mode-Instituts in Köln, «niemand will wie Old Economy aussehen.»Tech-Milliardäre kommen heute im Hoodie daher, Erfolg sieht anders aus als früher.
«Für uns ist dies eine spannende Zeit», findet Michael Arabiano, Chef beim etablierten Herren- und Damenausstatter Gränicher in Luzern. «Denn wir müssen uns Alternativen überlegen: Was trägt der Mann über dem Hemd oder dem T-Shirt? Möglich wäre ein Overshirt, also ein Hybrid aus klassischem Hemd und leichter Jacke, das vom italienischen Modeunternehmen Aspesi erfunden wurde und sowohl leger als auch angezogen wirkt. Oder eine schicke Strickjacke, oder eines der ultraleichten Jersey-Sakkos, wie es sie von Circolo, Harris Wharf oder Eleventy gibt».
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Klar ist: Der klassische Business-Anzug hat vielerorts ausgedient. Anstelle dessen kombiniert Mann jeden Morgen neu: diese Hose zu jener Jacke, dieses Shirt unter jenen Pulli. «Der Trend, sich auch im Büro legerer zu kleiden, war schon vor Corona bemerkbar, die Pandemie hat ihn nur befeuert», sagt Michael Arabiano. Er kennt aber auch Kunden, die nach zwei, drei Jahren im «formal light»-Modus wieder zurück möchten – weil es für sie viel einfacher ist, morgens einen kompletten Anzug aus dem Schrank zu nehmen und sich damit perfekt gekleidet und sicher zu fühlen.
Die neue Lust am Zweiteiler ist auch Claudia Torrequadra aufgefallen. Man habe kaum genügend Anzüge, um die sprunghaft angestiegene Nachfrage nach hochwertigen Modellen zu befriedigen, erzählt die Sprecherin von Bongenie Grieder. Und der Verkauf von lässigen Baumwoll-Chinos und bequemen, Jogging-ähnlichen Wollhosen mit elastischem Bund, die während Covid sehr gefragt waren, lässt zugunsten von Hosen aus feinem «fresco di lana», einer superleichten Sommerwolle, nach. Parallel dazu gehen auch wieder förmlichere Hemden über den Ladentisch – «in unserem Genfer Laden sogar mehr als in Zürich», sagt Torrequadra, «offenbar ist man in der Westschweiz noch ein wenig klassischer unterwegs».
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Wer nicht gerade in der Teppichetage vorsingen muss, ist mit entspannten Kombis wie dieser von Alferano gut ausgerüstet.
AlferanoAlferano-Kombis passen auch für den langen Apéro nach der Arbeit.
AlferanoEigentlich ein hochformaler Anzug, ist der Zweireiher, schmal und kurz geschnitten, heute ein Statement von frischem, jungem Stil. Ist aber nur geschlossen tragbar. Hier von Windsor.
WindsorAlso, was denn nun? Ist das Business-Outfit grundsätzlich lässiger geworden? Dreht sich der Wind schon wieder? Wie sind die gegensätzlichen Trends einzuordnen? Eva Bräutigam ist eine der allerletzten, die in der Schweiz Feinmass wie auf Londons Savile Row anbieten, in ihrem Zürcher Schneiderei-Atelier fertigt sie Anzüge komplett per Hand. Sie bietet aber auch Masskonfektion an, bei der jedes Stück abgemessen und personalisiert ist, aber in einer Fabrik produziert wird. «Masskonfektion und Bespoke, also Feinmass, haben sich in der Pandemie-Zeit sehr unterschiedlich entwickelt», erklärt sie, «die Masskonfektion ist komplett eingebrochen, das Feinmass aber, also das Luxusprodukt, ist die ganze Pandemie über unverändert gut gelaufen».
Offenbar sind Menschen, die mit grosser Freude schöne Kleidung aus hochwertigen Materialien tragen, nicht so tief in der Jogging-Falle versunken. Sei es, weil Feinmass unglaublich bequem ist, sei es, weil sich diese Klientel in halbsynthetischer Schlabberkleidung einfach nicht wohl fühlt. Jene aber, die den Anzug speziell fürs Büro brauchen und als Hauptzielgruppe für Masskonfektion gelten, haben es sich eher gemütlich gemacht; für Videokonferenzen braucht man keinen neuen Anzug. Jetzt aber, wo man sich wieder von Kopf bis Fuss herzeigen kann/muss, schon: «Der Markt für dieses Segment hat sich seit dem Frühjahr sehr schön erholt», bestätigt Eva Bräutigam.
Allerdings haben sich ihre Massanzüge verändert – bereits vor Corona, aber zunehmend mit Corona: «Man ist nicht mehr so streng, trägt neben dunkelblau und anthrazitfarben auch andere Kombinationen, die immer wieder eingesetzt und variiert und werden können. Die Sakkos sind oft ganz leicht verarbeitet, ohne Abfütterung und Polsterung, eine gewisse Lässigkeit hat sich eingeschlichen».
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Diese Tendenz ist auch bei den grossen Namen der Herrenmode zu sehen. Zegna etwa hat für Kunden, die sich zwischen Sitzungssaal und Spaziergang nicht extra umziehen möchten, eine «Luxury Leisurewear»-Kollektion mit einer Auswahl an multifunktionalen Kleidungsstücken eingeführt. Dazu gehören beispielsweise Überhemden, die als Blazer getragen werden können, und edle Sneaker aus Glattleder, Veloursleder oder Leinen, die auch zum Anzug passen. Alles ist bequem, vielseitig, anpassungsfähig und von jener sartorialen Präzision, für die das Label bekannt ist. Boss punktet mit einem weiterentwickelten Anzug, dem sogenannten «Suit of the Future», der sich Elementen und Materialien aus der Sportswear bedient, mehr Komfort und Funktion verspricht sowie knitterfrei, wasserabweisend und atmungsaktiv daher kommt. Ein interessantes Phänomen registrierte die aus der Schweiz geführte Modemarke Windsor: Seit der Pandemie verkauft sie plötzlich Unmengen ihrer hochwertigen, leicht merzerisierten Swiss Cotton T-Shirts. «Wenn das enge Hemd und die Krawatte verschwinden, kann die Bewegungsfreiheit auch an das Sakko weitergegeben werden: Viele unserer Modelle haben inzwischen einen leichten Stretch-Anteil», sagt Managing Brand Director Jan Mangold.
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Auch bei den Hosen seiner Marke hat sich das Spektrum erweitert: Bundfalte, egal ob einfach oder doppelt, Cargo-Pants, kleine Details wie neue Schliessen oder Riegel im Bund, Tunnelzug – plötzlich ist alles möglich, solange es maskulin bleibt und zum Sakko passt. Trotzdem glaubt Jan Mangold an eine Rückkehr des klassischen Anzugs, allerdings in einer lässigeren Version: «Wer seriös, aber gleichzeitig agil und modern auftreten möchte, trägt auf jeden Fall einen Anzug. Zum Beispiel unseren ungefütterten Travel-Anzug aus wunderschöner waschbarer Wolle, dazu eines unserer gewaschenen weissen Hemden aus feinstem Albini-Stoff und ein paar helle Penny Loafer aus weichem Veloursleder».
Lässige Uniformen: So sieht Italiens Anzug-Tycoon Zegna die Herren der Bürozukunft. Ober- und Unterteil Ton in Ton, aber beide getrennt tragbar und entspannt genug für den Barbesuch am Abend.
ZegnaDeutschlands Anzug-Ikone Hugo Boss erfindet unter ihrem Schweizer CEO Daniel Grieder den Anzug neu. Der Prozess der grossen Entstaubung läuft, hier zeigen sich bereits erste Ansätze.
HUGO BOSSAnzüge oder Sakkos sind längst nicht mehr nur aus Wolle. Baumwolle, Cord und andere Stoffe bringen lässigere Texturen und neues Tragegefühl. Hier ein Beispiel vom Meister der zeitlos-modernen Outfits: Aspesi.
AspesiFür den Herbst kündigen sich Stücke mit mehr Volumen, mehr Komfort und mehr Casual an. Klassische Sakkos wirken durch den Einsatz von Hemdstoffen oder Nylon urban und cool, Hosen aus knitterfreier «Perfomance-Wool» stets frisch und formschön. Anzugträger dürfen sich auf lässige Joggsuits, Chinosuits oder Jersey-Anzüge freuen, Blazer-Fans auf neue Längen und Materialien wie Leinen oder Baumwoll-Stretch. Alles wird etwas weiter und griffiger, entspannter und sportlicher – auch im Büro.
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«Vor allem im Büro», bestätigt Sven Siepen, Managing Partner im Zürcher Büro der international tätigen Unternehmensberatung Roland Berger, «denn gerade dort können wir unseren jungen Mitarbeitern, die frisch von der ETH oder der Uni in St. Gallen kommen, signalisieren, dass bei uns ein etwas lockereres Umfeld existiert. Ein starrer Dresscode würde sie nur abschrecken und anderen Unternehmen in die Arme treiben». Weil es seit Corona ohnehin nur wenig Kundenkontakte im Büro gibt, gehören dort Baumwollhosen und Sneaker mittlerweile zum Alltagsoutfit. Kombiniert mit einem gut geschnittenen Jackett und einem klassischen Hemd sind sie auch beim Kundenbesuch akzeptabel.
Trotzdem muss ein Berger-Berater morgens genau überlegen, was der Tag bringt und welche Kleidung angemessen ist. Wer zwei Termine hat, den ersten mit dem CEO eines SMI-Konzerns und den zweiten mit dem Produktionsleiter eines Maschinenbauers, wird für letzteren vermutlich overdressed sein, weil er sich aus Respekt vor dem CEO für einen dunklen Anzug mit weissem Hemd entschieden hat. «Es ist schwierig geworden», sagt Siepen, «aber als Serviceleister treten wir im Zweifelsfall lieber etwas zu korrekt als zu casual auf. Als Ausdruck der Wertschätzung dem Kunden gegenüber ist der Kleidungsstil wichtig».
«Die grosse Herausforderung ist es, das richtige Gleichgewicht zwischen bequem und förmlich zu finden», sagt Reto Caprez, Inhaber der Alferano, die seit 30 Jahren Masskonfektion in der Schweiz anbietet: Die Arbeitswelt habe sich durch Corona total verändert, «home-office, office-home – wo ist da die Grenze? Von der Kleidung wird jetzt erwartet, dass sie genauso hybrid ist und alle Bereiche abdeckt».
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Natürlich komme es auf den Anlass an: Anzug, Hemd und Krawatte sind in vielen Business-Situationen noch der richtige Code, aber diese Momente sind seltener geworden. «Wir spüren das an der Nachfrage», sagt Reto Caprez, «wer heute keinen Anzug tragen muss, der trägt keinen und geht mit grösster Selbstverständlichkeit in Chinos, Poloshirt und Chopper ins Büro. Dieser Look wird inzwischen fast überall akzeptiert und bei uns auch zunehmend bestellt. Zum Glück waren wir ein wenig vorbereitet, wir kannten und konnten das schon».
Gut so. Wie sehr sich der Dresscode im Berufsleben verändert hat – interessanterweise im Bereich «Automotive & Industrial Manufacturing» stärker als im «Banking & Capital Markets» – offenbart die frische Studie «Bürokleidung der Zukunft» der Beratungsfirma BearingPoint: 62 Prozent der befragten Büromenschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wollen auch am Arbeitsplatz T-Shirt und Sweater tragen, nur noch zwei Prozent können sich vorstellen, täglich Krawatte umzubinden. Die Studie zeigt auch, dass während der Pandemie viel an Bürokleidung gespart wurde: Lagen die Ausgaben 2019 noch bei durchschnittlich 1176 Euro im Jahr, fielen sie 2020/2021 auf 480 Euro.
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Ausser Frage steht, dass bestimmte Dresscodes «anlassbezogen» gelten, etwa für Meetings mit Vorgesetzten und Geschäftspartnern nicht ganz abgeschafft werden können. Also «Suit up» beim Kundentermin, Schlabberlook im Büro? «Den wird es bei uns nicht geben», sagt Fabiano Menghini, «aber wir haben heute viel mehr Möglichkeiten, unsere Persönlichkeit auch mit dem Office-Outfit zum Ausdruck zu bringen». Eine kleine Revolution – und nicht nur für Rechtsanwälte.
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