Abo
Gespräch mit Autor Tim Marshall

«Putin setzt auf Angst»

Russland, Israel, Taiwan und der Weltraum: Wie die Geografie im Krisenjahr 2024 die grossen Konflikte bestimmt.

Dirk Schütz

Der Brite Tim Marshall bietet eine spezielle Perspektive auf die Konfliktzonen.

Der Brite Tim Marshall bietet eine spezielle Perspektive auf die Konfliktzonen.

Nick Gregan

Werbung

Das Arbeitszimmer von Tim Marshall in seinem Haus in einem kleinen Dorf bei London. Hinter ihm hängen verschiedene Landkarten, die den Ton setzen für seine Leidenschaft: die politischen und wirtschaftlichen Dramen der Welt über die Geografie zu erklären. Sein Buch «Prisoners of Geography» war vor neun Jahren ein Welterfolg – und ist aktueller denn je.

Partner-Inhalte

Sie schauen mit einem sehr speziellen Blick auf die Weltlage: der Perspektive der Geografie. Wie wichtig ist sie für die Wirtschaft?

Sie ist zentral. Ob Arbeitskräfte, Bodenschätze oder Verkehrswege – die geografische Ausgangslage entscheidet über den Wohlstand der Nationen.

Wenn Sie den Russland-Ukraine-Krieg analysieren, ist die Geografie aus Ihrer Sicht ein Schlüsselfaktor.

Ich sage nicht, dass sie der einzige Grund für den Konflikt ist. Aber es gibt zwei entscheidende geografische Faktoren bei diesem Krieg. Der erste: Russland braucht Zugang zu den Weltmeeren, und seine grossen Häfen wie St. Petersburg, Murmansk oder Wladiwostok frieren im Winter zu. Schon beim Einmarsch in Afghanistan 1979 lag hier das wahre Motiv: Die Russen sollten ihre Stiefel «im warmen Wasser des Indischen Ozeans waschen» können, wie es der russische Nationalist Wladimir Schirinowski ausdrückte. Die Krim bietet den Hafen Sewastopol, es ist der einzige Warmwasserhafen unter russischer Kontrolle. Sie dürfen ihn strategisch nicht verlieren.

Werbung

Leeds und die Welt

Als Korrespondent für die BBC und Sky News berichtete Tim Marshall aus mehr als 30 Krisengebieten, von Israel über Syrien bis nach Afghanistan. 2015 veröffentlichte er «Prisoners of Geography», auf Deutsch als «Die Macht der Geographie» erschienen. Sein jüngstes Buch, «The Future of Geography», behandelt die Ausweitung der Konfliktzone ins All. Der 65-Jährige verpasst kein Spiel seines Herzensclubs Leeds United.

Buch Tim Marshall
ZVG
Buch Tim Marshall
ZVG

Und der zweite Faktor?

Die Geografie der nordeuropäischen Tiefebene ist aus russischer Sicht eine permanente Bedrohung. Von Frankreich bis Polen ist es eine vergleichsweise kurze Distanz, und an der Ostgrenze Polens beträgt die Nord-Süd-Distanz von der Ostsee bis zu den Karpaten nicht einmal 500 Kilometer. Doch dann öffnet sich die Ebene wie ein Pizzastück, und an der russischen Grenze ist der Korridor schon mehr als 3000 Kilometer breit und weitet sich dann noch mehr – eine flache Ebene bis zu den Gravitätszentren Moskau und St. Petersburg. In weniger als 500 Jahren wurden die Russen fünfmal aus dem Westen angegriffen.

Werbung

Welche Rolle spielt da die Ukraine?

Sie ist Teil der Pufferzone. Polen ging bereits 1991 verloren, jetzt bleibt vor allem die Ukraine. Das ganze Land ist flach, bis zu den westlichen Grenzen an den Karpaten. Es gibt eine kleine Lücke zwischen dem Schwarzen Meer und dem Gebirge in Moldawien am südlichen Ende, und am nördlichen Ende gibt es eine Lücke zwischen Moldawien und der Ostsee – Polen. In Tausenden von Jahren kamen die Angreifer durch diesen Raum und dann die Ukraine. Das macht sie geografisch so wichtig.

Der Nationalismus ist also vor allem Mittel zum Zweck: der Absicherung des eigenes Landes?

Wenn die Russen nach Westen schauen, ist diese Angst extrem tief verwurzelt in ihrer Psyche – aber eben nicht in unserer Psyche, wenn wir nach Osten schauen. Das rechtfertigt keinen Krieg. Es heisst auch nicht, dass der Westen wirklich eine Bedrohung darstellt. Aber es belegt, wie Putin seine Bevölkerung mit Angst hinter sich scharen kann. Das haben die Präsidentschaftswahlen demonstriert. Die Macht der Geografie ist tief verwurzelt.

Werbung

Lassen wir diese psychologischen Faktoren zu stark ausser Betracht?

Wir müssen uns dessen bewusst sein. Ein anderes Beispiel sind die Terroranschläge in den USA vom 11. September 2001. Wir verstehen bis heute nicht den vollen Schock für die amerikanische Psyche.

Warum nicht?

Die Amerikaner haben 5000 Kilometer Wasser auf der einen Seite und 12'000 Kilometer Wasser auf der anderen, deshalb wird von beiden Seiten kein Angreifer kommen. Im Norden liegt Kanada, dünn besiedelt, mit vielen Gebirgen und schwierigem Klima, und es ist ohnehin ein Verbündeter. Im Süden befindet sich Mexiko, mit einem Fluss und einer Wüste als natürlicher Grenze. In der amerikanischen Psyche fühlen sich die Bewohner sicher – die USA sind eines der wenigen Länder, das niemand einnehmen kann. Und dann tötet jemand 3000 Personen von ihnen an einem Tag. Das ist ein Schock für die Psyche, den wir Europäer nicht vollständig nachvollziehen können. Wer die Geografie versteht, kann auch die Wut besser verstehen, die zur Gegenreaktion geführt hat.

Werbung

Sie führte dazu, dass die Amerikaner den Irak angriffen – und auch die Konflikte in diesem Staat sind aus Ihrer Sicht wie so viele im Mittleren Osten in grossen Teilen durch geografische Faktoren zu erklären.

Ja, oder besser in diesem Fall: durch die Nichtbeachtung der geografischen Gegebenheiten. Die aktuelle Staatenordnung im Mittleren Osten geht auf den Zerfall des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Türken sahen den Irak niemals als eigenständiges Land, sondern hatten die Fläche nach geografischen Gegebenheiten in drei Regionen aufgeteilt: die bergige Kurdenregion im Norden, dann die Tiefebene in der Mitte für die Sunniten und ein Abschnitt im Süden mit viel Sumpfland für die Schiiten. Und dann kamen die Briten und die Franzosen und noch ein paar andere und zogen diese willkürlichen Linien, und sagten: Jetzt seid ihr ein Land.

Werbung

Die legendäre Sykes-Picot-Linie, benannt nach den zwei Diplomaten, die die Region mit neuen Staaten überzogen: Irak, Syrien, Libanon.

Sie haben gesagt: Lebt damit. Die Missachtung der Geografie ist ein ständiger Herd für Konflikte – bis heute. Selbst in unserem Land, Grossbritannien, hatten wir uns Jahrhunderte bekämpft, bis wir uns geeinigt haben, und selbst heute gibt es noch Konflikte.

Blick auf die Weltlage: «Die Geografie ist sehr wichtig, um die Konflikte zu verstehen.»

Blick auf die Weltlage: «Die Geografie ist sehr wichtig, um die Konflikte zu verstehen.»

Nick Gregan
Blick auf die Weltlage: «Die Geografie ist sehr wichtig, um die Konflikte zu verstehen.»

Blick auf die Weltlage: «Die Geografie ist sehr wichtig, um die Konflikte zu verstehen.»

Nick Gregan

Der blutigste Konflikt im Mittleren Osten ist der Palästina-Konflikt. Welche Rolle spielt hier die Geografie?

Werbung

Schon die Ansprüche der Palästinenser sind geografisch: «From the river to the sea» – vom Jordan ans Mittelmeer. Die Region ist für die Moslems ein «Waqf», ein heiliges Land, das nur sie regieren dürfen. Es ist eine extrem komplexe Mischung aus Religion, Kultur, Geschichte. Aber auch hier ist die Geografie wieder sehr wichtig, um die Konflikte zu verstehen.

Sie sehen auch die Unterentwicklung Afrikas durch die Geografie begründet.

Die Sahara mit ihren 1500 Kilometern Sand ist ein doppeltes Hindernis: Es gibt nicht nur keine Waren, die von Norden nach Süden gehen oder von Süden nach Norden, sondern auch keine Ideen. Von Westen nach Osten und umgekehrt ist einfach, zwei Jahrhunderte in der Entwicklung haben sich die Europäer und Chinesen befruchtet. Der Handel mit grossen Schiffen war extrem schwierig für die Afrikaner, weil ihre Küsten sehr sandig sind und damit keine Tiefwasserhäfen zulassen. Und dann gibt es das mittlere Drittel, der grünste Teil, wo die Tsetsefliege lebt, die die Lasttiere tötet. Die Flüsse sind anders als in Europa nicht flach, es gibt viele Wasserfälle, das ist Gift für den Handel. Europa hatte eine exzellente Geografie für Handel, grosse Teile Afrikas hatten das nicht, und das lässt sich nur langsam mit Technologie ausgleichen.

Werbung

Wie ist Ihr Blick auf den anderen grossen potenziellen Konflikt: China gegen Taiwan?

Ich glaube nicht, dass die Chinesen in diesem Jahrzehnt angreifen werden. Es wäre ein sehr grosses Wagnis. Es sind gegen 200 Kilometer raue See, also 200 Kilometer an Nachschublinien. Es gibt sehr wenige Landungsstrände auf der Insel. Die amerikanischen Waffen, die die Taiwaner haben, sind sehr leistungsstark. Die grösste Frage bleibt: Werden die Amerikaner kämpfen? 

Und?

Sie haben immer noch diese strategische Doppeldeutigkeit. Sie lassen einen Einsatz bewusst offen. Es wäre für sie die bislang wohl wichtigste Entscheidung des 21. Jahrhunderts.

Schwarz oder weiss, Herr Marshall?

Mond oder Mars? Mond: erst dort lernen, dann weiter zum Mars.

Musk oder Bezos? Musk – die Innovation von SpaceX ist beeindruckend.

★ AI: China oder USA? USA – aber es wird nicht einfach sein, den Vorsprung zu halten.

★ Trump oder Biden? Überzeugt bin ich von keinem, aber noch eher Biden.

★ Starmer oder Sunak? Auch keine sehr überzeugende Auswahl – ich enthalte mich.

Manchester City oder Liverpool? Wen interessiert das? Leeds United natürlich.

Pfund oder Franken? Pfund – ist internationaler.

Wein oder Bier? Beides – aber Wein lieber weiss.

Fussball oder Rugby? Klar Fussball – spannender und grösser.

Werbung

Aber auch für die Chinesen.

Es braucht drei bis vier Monate für den Aufmarsch an Truppen und Waffen, man würde mindestens 300'000 Soldaten benötigen. Dieser Aufbau liesse sich nicht kaschieren. Die Amerikaner hätten also genügend Reaktionszeit. Wenn sie kämpfen, würde es sehr wahrscheinlich eine weltweite Rezession geben, es gäbe sehr viele Tote und ein vielleicht langer Krieg mit schwer absehbaren Folgen.

Und wenn sie nicht kämpfen?

Dann würde sich jeder Verbündete in der Region – Südkorea, Japan, die Philippinen – die Frage stellen: Was nützt es mir, ein Alliierter der USA zu sein, wenn sie der Demokratie in Taiwan nicht helfen? Die Philippinen haben sich in den letzten zwei Jahren viel stärker den USA zugewandt, in der Annahme, dass sie dort Hilfe bekommen. Das heisst: Wenn die Amerikaner nicht für Taiwan kämpfen, wird die gesamte Machtbalance im westlichen Pazifik in Richtung China kippen. Es ist Lose-lose für die Amerikaner: Wenn sie nicht kämpfen, verlieren sie die Hälfte des Pazifiks, wenn sie kämpfen, verlieren sie sehr viele Soldaten.

Werbung

Wie wichtig ist der Präsident? Welche Rolle würde Trump spielen?

In diesem speziellen Fall wäre Trump aus meiner Sicht nicht schlimmer als ein anderer Präsident. Es ist stets die grosse Frage: Wie wichtig sind die Leader? Sie kommen und gehen, aber die Interessen der Länder bleiben.

Die China-Politik von Biden ist nicht anders als die von Trump.

Deshalb glaube ich, dass der Präsident in diesem Fall keinen grossen Unterschied machen würde. Der Leader ist wichtig, aber er handelt für sein Land, und die Empfehlungen, die er bekommen wird, werden sehr ähnlich sein. In der Ukraine ist das anders.

Warum?

Sie ist weniger wichtig für die Amerikaner. Der aktuelle Präsident Biden hat sich sein ganzes Leben mit Aussenpolitik beschäftigt, er kennt die tektonischen Platten der politischen Welt. Er weiss: Geht die Ukraine, dann vielleicht Moldawien und dann Georgien, und dann bleibt nur der NATO-Artikel 5 , der die baltischen Staaten retten kann. Trump hat nicht eine so differenzierte Sicht der Aussenpolitik. Er sagt sich einfach: Ich spare viel Geld, wenn ich da nicht mehr kämpfe. Aber man weiss nie, wie viel bei seinen Aussagen einfach Prahlerei ist.

Werbung

In Ihrem jüngsten Buch, «The Future of Geography», zeigen Sie auf, wie sich die Konflikte in den Weltraum verlagern. Jüngst gab es Verlautbarungen, die Russen wollten ein Atomkraftwerk auf dem Mond bauen.

Sie behaupten, dass es dort nicht genug Energiekapazität gebe, um eine Basis zu unterhalten, deshalb brauche es eine kleine Atomeinheit. Ich bezweifle das: Es gibt dort Wasserstoff, und die Sonnenstrahlung ist viel stärker als auf der Erde, weil sie nicht durch die Atmosphäre geschwächt wird. Die Russen spannen mit den Chinesen zusammen, wie die Amerikaner wollen sie zu Beginn der 2030er Jahre dort ihre Basis bauen.

Es gibt die sogenannten Artemis Accords, die die Zusammenarbeit im All regeln sollen. Sie halten sie für weitgehend nutzlos.

Es sind Richtlinien, die nicht mehr zeitgemäss sind, auch wenn man sie als Rahmenwerk noch nutzen sollte. Wir haben heute schon fast 10'000 Satelliten im All, im Jahr 2030 sollen es angeblich mehr als 60'000 sein. Da passen die bestehenden Regeln nicht mehr. Die Militarisierung des Weltraums nimmt zu, und wir wollen auf dem Mond auch Bodenschätze wie Lithium heben, die wir für den Aufbau der nachhaltigen Volkswirtschaften auf der Erde brauchen.

Werbung

Rechnet sich das?

Noch nicht. Aber kein grosses Land will einfach abwarten und es seine Konkurrenten herausfinden lassen.

Welche Rolle spielt die Privatwirtschaft? 

Ich nenne es Space Race 2.0. Beim ersten Mal hatten die Sowjets keine kommerziellen Interessen, in den USA war die staatliche NASA der Treiber. Jetzt sind die Aktivitäten zu 50 Prozent kommerziell, die Player heissen Boeing, Lockheed, SpaceX oder Bezos. Auch in China ist das so, auch wenn die Grenzen zwischen privat und staatlich dort verschwimmen. Der Handel ist ein zentraler Player, in den 1960ern und 1970ern war es nur der Staat.

Warnung vor Satellitenkrieg: «Er wird nur schwer zu verhindern sein.»

Warnung vor Satellitenkrieg: «Er wird nur schwer zu verhindern sein.»

Nick Gregan
Warnung vor Satellitenkrieg: «Er wird nur schwer zu verhindern sein.»

Warnung vor Satellitenkrieg: «Er wird nur schwer zu verhindern sein.»

Nick Gregan

Werbung

Satelliten waren in der Ukraine schon wichtig.

Es gibt sieben oder acht Länder, die Weltraum-Kommandozentralen in ihr Militär integriert haben. Amerika, China, Indien, Grossbritannien, Deutschland und andere. In der Ukraine sehen wir den ersten Krieg, in dem beide Seiten Zugriff auf Weltraumtechnologie haben. Die Ukraine hat keine eigene, aber sie hat Zugang. Beide Seiten nutzen Satelliten für Raketenabschüsse, Zielerkennung und Informationsbeschaffung. Es gibt auch Gerüchte, dass die Russen eine Atombombe im All installiert hätten, das ist aber nicht bewiesen. Bis vor Kurzem waren alle Satelliten mindestens so gross wie Gefrierschränke, und man konnte sie von der Erde aus abschiessen, das haben die Amerikaner oder Chinesen schon als Tests mit ihren eigenen Satelliten gemacht. Die neuen Satelliten sind viel kleiner und in Reihen miteinander verbunden. Einen zu treffen, legt sie nicht lahm, es wird sie also nicht abschiessen. Eine kleine Atombombe hätte aber diese Kapazität.

Werbung

Kommt es zu einem Satellitenkrieg?

Das wird schwer zu verhindern sein. Wenn Satelliten Teil der Kriegsführung sind, was heute schon der Fall ist, dann ist es die Folge, dass man militärische Assets im Weltall haben wird. Das entspricht einfach der menschlichen Geschichte. Vor zwei Jahren hat die NATO ihr Wording angepasst. Dort heisst es jetzt: «Das Weltall ist eine Kriegszone.»

Und es gibt keine Regeln.

Die Gesetze liegen immer mehrere Jahre hinter der Technologie zurück.

Über die Autoren
Dirk Schütz

Dirk Schütz

Dirk Schütz

Auch interessant

Werbung