Guten Tag,
Der Vincenz-Prozess ist eine Zäsur im Schweizer Justizsystem: Skandalisierung als Strategie. Der Mix aus Prominenz und Exzessen ist zu verlockend.
STÄRKE MARKIEREN Pierin Vincenz (l.) beim Prozessauftakt mit seinem Anwalt Lorenz Erni.
Joseph Khakshouri für BILANZWerbung
Da war er wieder – nach drei Jahren und sieben Monaten. Damals, im Juni 2019, nach der Entlassung aus der mehr als viermonatigen Untersuchungshaft, hatte sich Pierin Vincenz das letzte Mal mit einem dürren Statement gemeldet. «Die im Rahmen des Strafverfahrens gegen mich erhobenen Vorwürfe bestreite ich nach wie vor, und ich werde mich mit allen Mitteln dagegen wehren», liess er verlauten – und begab sich in die Obhut seines Strafverteidigers Lorenz Erni, der ihn seit mehreren Jahren in manchen unappetitlichen Angelegenheiten vertrat. Seitdem: eisernes Schweigen.
Jetzt trat der Mann, der als Kind einst «Showstar» als Wunschberuf angegeben hatte, wieder auf grosser Bühne auf – im grössten Prozess der jüngeren Schweizer Wirtschaftsgeschichte. Im Zürcher Volkshaus, das die Richter extra angemietet hatten und das zwei Tage vor Prozessbeginn noch das «Dschungelbuch» aufführte, drängten sich Berichterstatter und Schaulustige. Den Volksbanker fallen zu sehen, versprach beste Unterhaltung.
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Doch die Rolle des reuigen Sünders lag Vincenz nie. Der langjährige Raiffeisen-Chef, der sich selbst gern als sinnenfroh taxiert, gab sich zu Beginn des ersten Prozesstages (Redaktionsschluss von BILANZ) als Piz Pierin: Unbeugsam und lächelnd. «Mir geht es gut», lautete das erwartbare Statement, die ersten beiden Knöpfe des weissen Hemdes geöffnet. Die Reflexe der Bankerkaste funktionieren noch: erst mal Stärke markieren.
Der Prozess stellt besonders in einem Punkt eine Zäsur im Schweizer Justizsystem dar: dem brutalen Angriff auf die Persönlichkeit. «Character assassination» ist ein bewährtes Mittel in amerikanischen Verfahren, jetzt hält der Rufmord erstmals in nie gekannter Dimension in der Schweiz Einzug. Skandalisierung als Prozessstrategie – das ist Neuland für eine bislang eher milde Wirtschaftsjustiz, die sich durch formtreue Sachlichkeit und wenig Emotionen auszeichnete. «Es ist das amerikanischste Strafverfahren, das die Schweiz je gesehen hat», betont der Chef einer US-Kanzlei in Zürich.
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Schon die Wahl des Volkshauses als Veranstaltungsort machte den Prozess zum Spektakel. Als Eduardo Leemann, Ex-Chef der Zürcher Falcon Bank, im Dezember ebenfalls vor einem auf fünf Gerichtstage angesetzten Verfahren stand – es ging um Geldwäsche beim malaysischen Staatsfonds 1MDB – fand der Prozess still und leise am Bundesstrafgericht in Bellinzona statt.
STRAFE FORDERN Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel will die beiden Hauptangeklagten sechs Jahre ins Gefängnis bringen.
ZVGSTRAFE FORDERN Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel will die beiden Hauptangeklagten sechs Jahre ins Gefängnis bringen.
ZVGDoch vor allem die Anklageschrift stellt eine Attacke auf die Persönlichkeit eines mutmasslichen Wirtschaftskriminellen dar. Man könnte auch sagen: Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel, der einst als Bewerber beim «Eurovision Song Contest» ebenfalls Showstar-Gelüste offenbarte, geht in bester amerikanischer Pokermanier «all-in». Fast das ganze erste Drittel des 364 Seiten starken Konvoluts handelt von Spesenausschweifungen des Ex-Raiffeisen-Chefs und seines Mitstreiters Beat Stocker. Geradezu genüsslich-boulevardesk werden die Exzesse ausgeweidet.
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Das zeigt die Paradoxie des Verfahrens: Die Gerichte haben den Persönlichkeitsschutz in den letzten Jahren in ihrer Rechtsprechung massiv erhöht, selbst kleinste Verstösse werden rigoros geahndet. Doch jetzt werden vor einem Gericht intimste private Handlungen öffentlich ausgebreitet. Und das mit grösstmöglicher Wirkung. Die Anklageschrift kursiert seit mehr als einem Jahr, einige Wochen vor Prozessbeginn wurde sie den akkreditierten Medienvertretern zugestellt. Jede Plattform des Landes konnte das Privatleben des Bankers ausbreiten, mit allen süffigen Details. Der «Blick» gönnte sich im Vorfeld eine vierteilige Serie. Hauptfokus: Spesenritter Vincenz. Motto: So etwas hat das Land noch nicht gesehen.
Da sind all die Reisen, die Vincenz mit seiner damaligen Frau und seinen beiden Töchtern oder mit Golffreunden unternommen hat, alle auf Kosten der Firma: Australien, New York, Mallorca, Dubai – mit allen Restaurant- und Hotelrechnungen akribisch aufgelistet. Die Tinder-Bekanntschaft Alexandra wird vorgestellt, von Vincenz für 700 Franken im Hotel Storchen auf Firmenkosten bewirtet. Dazu vor allem ein Horrorgemälde für seine beiden erwachsenen Töchter, die er nach dem Tod der ersten Frau allein grossgezogen hat: die ständigen Ausflüge in Stripclubs, nicht nur in Zürich, sondern über das ganze Land verteilt, mit so schönen Namen wie «Tiffany» in St. Gallen oder «Pussy Cat» in Genf. Höhepunkt der Skandalorgie: die demolierte Hotelsuite im Zürcher «Park Hyatt», deren Reparatur Vincenz der Bank in Rechnung stellte, nachdem der Streit mit einer Bardame handgreiflich geworden war. Selbst die «NZZ am Sonntag», in der Causa Vincenzstets gut informiert, veröffentlichte beim Abdruck der Protokolle des Vincenz-Verhörs zuerst seine Aussagen zu diesem Vorfall. Die «character assassination» der Anklage war schon vor Prozessbeginn voll aufgegangen – Vorverurteilung inklusive.
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Passend dazu schlug der zweite Hauptbeschuldigte amerikanisch zurück. Stocker gab der «NZZ am Sonntag» ein dreiseitiges Interview, das wohl vor allem einen Zweck hatte: ihn als erfolgreichen Berater zu positionieren, der bei einem milden Urteil wieder Aufträge bekommen will. Der 62-Jährige redete auch über seine Multiple-Sklerose-Krankheit – als BILANZ sie einst in einer Titelgeschichte über den Schattenmann erwähnte, klagte er noch heftig gegen Persönlichkeitsverletzung. Die Hoffnung hier offenbar: «character build-up».
Gewiss, Vincenz bot eben auch sehr viel Stoff. Kein Manager in der Schweiz hat so exzessiv gelebt wie er. Schon zu seinen Amtszeiten raunten manche Konkurrenten: Wenn sein wilder Lebenswandel bekannt werde, drohe ein massiver Schaden für den Finanzplatz. Fixpunkt war das Striplokal King’s Club an der Talstrasse in der Zürcher Innenstadt. Als das langjährige Besitzerehepaar Jürg und Marina König im Jahr 2015 einen Verkauf plante, ventilierte Vincenz sogar eine Übernahme des Clubs.
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«KING’S CLUB» IN ZÜRICH Vincenz ventilierte sogar einen Kauf seines Stamm-Stripclubs. VR-Präsident Johannes Rüegg-Stürm zeichnete alle Rotlichtspesen brav ab – die Anklage lässt ihn unbehelligt.
Keystone .«KING’S CLUB» IN ZÜRICH Vincenz ventilierte sogar einen Kauf seines Stamm-Stripclubs. VR-Präsident Johannes Rüegg-Stürm zeichnete alle Rotlichtspesen brav ab – die Anklage lässt ihn unbehelligt.
Keystone .Dazu kam es dann nicht, der «King’s Club» ist längst geschlossen. Aber dass eine Bardame von dort ihn erpresste, bot besonders viel Angriffsfläche. Immer dabei: Männerfreund Stocker. Er soll stolz erzählt haben, wie er der Bardame mehrere hunderttausend Franken in einer Plastiktüte überreichte. Keiner wusste alles über das ausschweifende Privatleben des Bankers, aber Stocker wusste am meisten.
Dass Vincenz etwa wild an der Börse spekulierte, wie die «SonntagsZeitung» aufdeckte, oder dass er auch ausserhalb Zürichs die Rotlicht-Milieus heftig frequentierte, erstaunte selbst enge Mitstreiter. Die Stamina des Nachtgängers nötigt Respekt ab, aber selbst ihm wohlgesonnene Weggefährten haben heute eher Mitleid und sprechen von Sexsucht. Dass Vincenz den Strafverteidiger Erni schon lange vor den ersten öffentlichen Verdachtsmomenten an sich band, galt als seine Form von Risikominimierung.
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Stocker wurde von Vincenz mit einem pauschalen Beratungshonorar von 50'000 Franken pro Monat entlohnt, oft ohne konkrete Gegenleistung, insgesamt bezog er über zwei Millionen Franken über dieses Konstrukt. Wie eng die Bande waren, zeigte der Arbeitsort von Vincenz in Zürich: Er hielt seine Meetings nicht etwa in der Zentrale am Limmatquai ab, sondern hatte eigens ein Büro gemietet im «Vorderen Florhof», einem Stadthaus in der Nähe des Kunsthauses, in der Stocker die «Fides Business Partner» als Grossaktionär und VR-Präsident betrieb.
Jedoch: Dass hier ein brutales Kontrollversagen des Controllings und vor allem des Verwaltungsrats von Raiffeisen vorliegt, wird viel zu wenig thematisiert und bleibt ein Schwachpunkt der Anklage. Das Corporate-Governance-Debakel hielt über Jahre an und wurde auch von den Aufsehern der Finma grosszügig übersehen. Zwar verurteilten sie im Sommer 2018 in der bislang härtesten Pressemitteilung ihrer Geschichte die Praktiken scharf: Der Verwaltungsrat habe «die Aufsicht über den ehemaligen CEO vernachlässigt» und ihm potenziell ermöglicht, «eigene finanzielle Vorteile auf Kosten der Bank zu erzielen».
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Doch mehr als zehn Jahre hatten die Aufseher offenbar nichts bemerkt. Vincenz war der Inbegriff des imperialen CEO. Als er etwa im Jahr 2008 für seine zu hohen Bezüge öffentlich unter Druck geriet, liess er sich verdeckt extra eine Einmalzahlung von 14 Millionen Franken zusichern – für jedes Jahr bis zu seinem Abtritt zwei Millionen im Voraus. Ab 2009 galt dann offiziell die neue Limite von zwei Millionen. Nach aussen verkaufte er die Kürzung als neue Bescheidenheit. Die Spesenexzesse, die er nach der vermeintlichen Kürzung hochfuhr, waren dann seine Form der Lohnerhöhung, die er sich selbst gönnte.
VR-Präsident Johannes Rüegg-Stürm, mit mehr als 500'000 Franken bestens besoldet und notabene HSG-Corporate-Governance-Professor, hat all diese Spesen abgesegnet. Laut Anklage hat er das Nachfragen einfach unterlassen. Doch beschuldigt wird er dafür nicht. Gewiss, Vincenz war als Organvertreter für den Schutz des Raiffeisen-Kapitals verantwortlich. Aber die Grauzone ist eben gross. Dass etwa der gefallene CS-Präsident António Horta-Osório den Firmenjet für Flüge nach London – wo seine Frau lebt – oder auf die Malediven nutzte, hat zwar seinen Rausschmiss befeuert. Doch einen Strafprozess gibt es dafür nicht.
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FRISCH GEKÜRT Pierin Vincenz nach seinem Antritt als Raiffeisen-Chef 1999. In 16 Jahren verdoppelte er den Gewinn.
KEYSTONE/Regina KuehneFRISCH GEKÜRT Pierin Vincenz nach seinem Antritt als Raiffeisen-Chef 1999. In 16 Jahren verdoppelte er den Gewinn.
KEYSTONE/Regina KuehneVincenz war zudem kaum der einzige Banker, der im «King’s Club» die Spesenrechnung strapaziert hat. Sonst hätte das Etablissement mit Champagnerflaschen-Preisen von mehr als 1000 Franken die Eigentümer nicht so reich gemacht. Zudem war er dort praktisch nie allein, und seine Mitstreiter lassen sich immer auch als Geschäftspartner deklarieren – Beziehungspflege der speziellen Art. Und dann ist da auch noch die Frage der Verhältnismässigkeit: Der von der Staatsanwaltschaft aufgelistete Schaden ist im Gesamtkontext eher gering. Knapp 600'000 Franken Spesenbetrug diagnostiziert die Anklageschrift bei Vincenz insgesamt – in seinen 16 Jahren an der Spitze steigerte Raiffeisen den jährlichen Gewinn von 330 auf 800 Millionen Franken.
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Der mutmassliche Spesenbetrug wird somit zu einem viel zu langen Vorspiel, um den Borderline-Charakter des Angeklagten zu dokumentieren – und bestärkt manchen Strafjuristen in der Ansicht, dass die Hauptanklage eher dünn ist. Selbst die Frage, wann erstmals mutmasslich kriminelle Energie ins Spiel kam und von welchem Teil des wilden Männerduos sie ausging, können die Ankläger nicht beantworten.
Unbestritten ist die Ursünde: Der Kauf des Kartenterminalherstellers Commtrain Card Solutions. Vincenz hatte den Vater des Gründers des Herisauer Startups über die Helvetia-Versicherung kennengelernt. Er war damals seit zwei Jahren Raiffeisen-Chef und auch VR-Präsident des Kartenanbieters Viseca, der späteren Aduno. Damals schon an Bord: Beat Stocker. Vincenz hatte ihn schon früh als Berater in den Verwaltungsrat geholt. Das Gremium zählte sechs Banker der Eignerbanken – und einen Berater: Stocker. «Das war schon komisch», erinnert sich ein damaliger Verwaltungsrat. «Der war einfach da – Vincenz wollte ihn.» Kurz zuvor hatte ein Beratungsmandat Stocker ins Puschlav, den südlichsten Zipfel Graubündens, geführt, wo er in dem 1000-SeelenÖrtchen Brusio ein Ansiedlungsprojekt organisierte. Vincenz wiederum amtete in Brusio als VR-Präsident des Weinhändlers Plozza, ein Posten, den zuvor schon sein Vater innegehabt hatte.
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Das Duo beteiligte sich heimlich mit 60 Prozent an der Firma Commtrain Card Solutions. Doch wer war Initiator für diese mutmasslich kriminellen Geschäfte? Weggefährten beschreiben Vincenzschon damals als extrem geldgetrieben – und Stocker war der Mann für die Umsetzung. Der Berater betont zwar, dass «eine kriminelle Energie bestimmt nicht da war».
Foto: Joseph Khakshouri für BILANZ
Aber dem widersprechen die Fakten: Mit grossem Aufwand kaschierte das Duo über ihre Zuger Beteiligungsfirma iFM ihre Mehrheitsbeteiligung an der Commtrain, und ihr Anwalt Beat Barthold hat sich bereits schuldig bekannt, diesen Betrug über die Gründung der iFM ermöglicht zu haben. Kurz nach dem verdeckten Einstieg 2005 machte Vincenz seinen heimlichen Mitgesellschafter Stocker zum CEO der Kreditkartenfirma, die jetzt bereits Aduno hiess.
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Der Präsident einigte sich mit dem CEO auf den Kauf der Minifirma – Stockers Vorgänger hatte sich noch dagegengestemmt. Es war klassisches Frontrunning: Aduno kaufte die Firma, und VR-Präsident Vincenz und CEO Stocker strichen heimlich je einen Nettogewinn von 1,7 Millionen Franken ein. Stocker gönnte sich im gleichen Jahr eine schöne Villa in Bolligen bei Bern, Vincenz ein Motorboot des italienischen Edelbauers Cranchi auf dem Luganersee.
Dieses Muster wiederholte das Duo gemäss Anklage in verschiedenen Varianten drei Mal – so stiegen auch die Kleinfirmen Eurokaution, Genève Credit & Leasing und Investnet schweizweit zu unrühmlicher Bekanntheit auf. Damit, so die Staatsanwaltschaft, hätten sich Vincenz und Stocker unrechtmässig auf Kosten der Firmen Raiffeisen und Aduno bereichert – Vincenz soll 9 Millionen zurückzahlen, Stocker sogar 16 Millionen, und beide sollen sechs Jahre ins Gefängnis.
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Eine hohe Strafforderung für ein Land mit milder Wirtschaftsjustiz. In den USA wurde der Vermögensverwalter Allen Stanford, der 2008 in Zürich mit grosser Fanfare eine Niederlassung eröffnete, wegen Anlagebetrugs zu 110 Jahren Haft verurteilt – auch er beteuert bis heute seine Unschuld. In England bezog Osman Shahenshah, Ex-CEO des gefallenen Rohstoffhändlers Afren, eine Haftstrafe von 30 Jahren, weil er in die eigene Tasche gewirtschaftet hatte. In Deutschland sitzt der 77-jährige Friedrich Janssen, Ex-Risikochef des gefallenen Bankhauses Sal. Oppenheim, gerade eine Strafe von zwei Jahren und zehn Monaten ab, aber nicht etwa wegen persönlicher Bereicherung, sondern wegen falscher Risikoeinschätzung bei der Übernahme des maroden Kaufhauskonzerns Arcandor.
FINANZSÜNDER Milde in der Schweiz, Härte im Ausland: Urkundenfälscher Remo Stoffel schloss einen Deal...
YANIK BUERKLI...die Finanzmanager Friedrich Janssen...
picture alliance / Ina Fassbender/dpaOsman Shahenshah...
Bloomberg...und Allen Stanford mussten ins Gefängnis.
Aaron M. Sprecher/BloombergWerbung
Die Zürcher Staatsanwaltschaft unter Jean-Richard-dit-Bressel zeigte sich dagegen zuletzt eher zahm. Der Bündner Immobilienunternehmer Remo Stoffel, der für den Firmenaufbau nachweislich Urkunden fälschte, wobei die Fälschungen laut Staatsanwaltschaft «grosse Summen betrafen» (mehr als 180 Millionen Franken), kam mit einer bedingten Freiheitsstrafe von 180 Tagen und einer Busse von 10'000 Franken davon. Die Maximalstrafe lag bei fünf Jahren. Stoffel hatte einen Deal gemacht, den Jean-Richard-dit-Bressel abgesegnet hatte.
Auch Vincenz wollte angeblich einen solchen Deal, doch der Staatsanwalt lehnte ab – der Volksbanker ist eben ein Statusfall. Der einstige Starsanierer Hans Ziegler bekam trotz heftigen Insidervergehens nur zwei Jahre Haft auf Bewährung statt der von den Anklägern geforderten fünf Jahre – und Ziegler war im regulierten Bereich unterwegs, den Stocker und Vincenz bei ihren Start-up-Beteiligungen immer geschickt umschifften. Vincenz hat längst jeglicher Betätigung im Finanzbereich abschwören müssen, Stocker beruft sich auf seine Krankheit. Ein Strafmass nur mit der Hälfte der geforderten sechs Jahre würde da schon die Frage der Verhältnismässigkeit aufwerfen.
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Kommt hinzu, dass der wirtschaftliche Schaden gering ist. Aus Zahlensicht ist das Vincenz-Drama ein Non-Event. Die 270 Millionen Franken, die Raiffeisen vor drei Jahren als grosse Vincenz-Säuberungsaktion abschrieb, waren kaum mehr als eine Show des damaligen VR-Präsidenten Guy Lachappelle. Es handelte sich um ein Sammelsurium von verschiedenen buchhalterischen Manövern, die grösstenteils nichts direkt mit der Vincenz-Affäre zu tun hatten. Real sind dagegen die Kosten für Gutachter und Anwälte. Geschätzte 15 Millionen gab die Bank für drei Gutachten aus, 25 Millionen wurden für die scharfen Anwälte von Prager Dreifuss reserviert, die mit zehn Anwälten zivilrechtlich gegen die Angeklagten vorgehen. Da verblassen die Spesenexzesse genauso wie die Regressforderungen an Vincenz und Stocker. Hier gilt einmal mehr: Der Schaden ist kleiner als die Aufarbeitung.
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Für Vincenz besonders tragisch: Seine Aufbauleistung verblasst vollkommen. Mehr als 700 eigenständige Banken zählte der Verbund bei seinem Amtsantritt im Jahr 1999. Er schuf gemeinsame Services – IT, Finanzen, HR – und drückte die Zahl der Banken auf 250. Gleichzeitig brachte er die Bauernbank in die Städte. Der Gewinn stagniert seit seinem Abgang vor sieben Jahren.
Die Macht ist unter CEO Heinz Huber und dem erst frisch und mit schlechtem Resultat ins Amt gewählten VR-Präsidenten Thomas Müller wieder stärker an die Basis gewandert – just am Vorabend des Prozessbeginns hat die Bank die Verselbstständigung der Filialen in Bern und Thalwil bekannt gegeben. Vincenz hat das Produktangebot harmonisiert, jetzt droht wieder Wildwuchs – vom Marketing bis zur Preisgestaltung. Die neue Autonomie verhindert zudem eine Antwort auf die zentrale strategische Frage: Wie löst sich die Raiffeisen von der Abhängigkeit vom Hypothekargeschäft? Vincenz wollte diversifizieren, und die Ironie ist, dass all seine längst verkauften Beteiligungen heute mehr wert wären als beim Einstiegsdatum.
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Mit fast allen früheren Wegbegleitern hat er keinen Kontakt mehr. Von seiner zweiten Frau ist er geschieden. Sie bewohnt die Turnhallen-Villa in Teufen AR, auf der sein Studienkollege Peter Spuhler einen Schuldschein von mehr als sechs Millionen hält. Als seine Partnerin stellte er vor einiger Zeit eine deutlich jüngere St. Gallerin vor, die im Pharmavertrieb tätig ist. Sie begleitete ihn 2015 bereits auf seinem ebenfalls als Dienstreise deklarierten Golftrip nach Dubai. Seine Geldsorgen sind massiv, wie als letztes Puzzleteil der totalen Vincenz-Ausleuchtung vor dem Prozess bekannt wurde. Sogar seine Autos wollte er offenbar zu Geld machen. Berufung und Zivilklagen werden ihn wohl noch Jahre belasten.
So hatte sich der 65-Jährige seinen Ruhestand kaum vorgestellt. Vielen in seiner Generation passiere es, dass sie bis 65 arbeiteten und dann in ein Loch fielen, sagte er vor sieben Jahren im BILANZ-Interview zu seinem Abtritt. Das wolle er nicht. «Da bin ich schon einer, der auch ein bisschen für sich selber schaut.» Das tat er – aber doch etwas zu exzesssiv.
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