Guten Tag,
Die Schweiz will wieder ein internationales Prestigeamt ergattern – und der Ex-Nationalbank-Präsident einen Job mit mehr Macht und Gestaltungsspielraum.
Florence Vuichard
Der ehemalige Nationalbank-Präsident und heutige Blackrock-Manager Philipp Hildebrand soll für sein Land einen international wichtigen Posten erobern.
René Ruis für Le TempsWerbung
Philipp Hildebrand ist zurück. Zurück in jenem Konferenzsaal im zweiten Untergeschoss des Bundesmedienzentrums in Bern, wo er 8 Jahre, 9 Monate und 20 Tage zuvor seinen Rücktritt als Nationalbank-Präsident verkünden musste. Damals – am Tiefpunkt seiner Karriere – stand er ganz alleine da, diesmal erscheint er Seite an Seite mit Wirtschaftsminister Guy Parmelin. Und mit dem Segen des Gesamtbundesrats.
Hildebrand, so die Hoffnung der Regierung, soll für die Schweiz den Chefposten bei der OECD erobern, bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die sich in den letzten 15 Jahren vom behäbigen, bürokratischen Club der reichen Industrieländer zur mächtigen Schaltzentrale für globale Standards in der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik hochgearbeitet hat. Heute ist der Posten des Generalsekretärs bei der OECD definitiv einer der Topjobs im globalen Policy-Making.
Der Moment sei günstig für die Schweiz, zeigt sich Parmelin überzeugt. Es biete sich hier «eine einmalige Gelegenheit, die Schlüsselstelle einer hoch angesehenen internationalen Organisation zu besetzen». Etwas, das der Schweiz seit 1993 nicht mehr vergönnt ist, seit dem Rücktritt von Arthur Dunkel als Direktor des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens GATT, der Vorläuferorganisation der Welthandelsorganisation WTO.
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Als klar wurde, dass OECD-Generalsekretär Ángel Gurría keine vierte Amtszeit anhängen würde, hat Parmelins Departement, dessen Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Bundesbern formal für die Beziehungen zur OECD zuständig ist, zuerst analysiert, ob die Schweiz überhaupt eine Chance auf Erfolg hat. Erst als diese Frage positiv beantwortet war, wurde geprüft, ob es hierzulande aussichtsreiche Anwärter gibt.
Der Bundesrat und sein Kandidat: Wirtschaftsminister Guy Parmelin schickt Philipp Hildebrand ins Rennen um den OECD-Chefposten.
ReutersDer Bundesrat und sein Kandidat: Wirtschaftsminister Guy Parmelin schickt Philipp Hildebrand ins Rennen um den OECD-Chefposten.
ReutersDie Namensliste war überschaubar. Denn das Rekrutierungsbecken mit Personen mit dem gewünschten Anforderungsprofil ist klein oder besser: faktisch inexistent. Andere Länder schicken ehemalige Minister ins Rennen, hierzulande hätte man einzig Doris Leuthard den Job zugetraut. Sie hatte als Wirtschaftsministerin und später auch als Vorsteherin des Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation dank der Internationalen Energieagentur, einer autonomen OECD-Behörde, immer wieder Kontakt zur Organisation mit Sitz in Paris. «Ich war daher schon mehrmals im Gespräch, das stimmt», sagt die frühere Bundesrätin. Mehr will sie dazu nicht sagen. Antreten wollte sie offensichtlich aber auch nicht.
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Trotz Parmelins Optimismus: Favoritin ist die Schweiz definitiv nicht, ihre Chancen dürften vielleicht bei etwa 20 Prozent liegen. Das hat Hildebrand aber nicht abgeschreckt, als das Wirtschaftsdepartement im Sommer bei ihm anklopfte. Nach einer Bedenkzeit und mehreren Gesprächen sagte er zu, absolvierte eine Vorstellungstour bei allen Bundesräten, versicherte sich ihrer Unterstützung und legte ihnen dar, was er als OECD-Generalsekretär erreichen möchte. Und er verhehlte auch seine Faszination nicht für den Dienst an der Allgemeinheit und natürlich für die damit verbundene Macht.
Fürs Geld jedenfalls will er den Job bestimmt nicht, dürfte er doch heute beim weltweit grössten Vermögensverwalter Blackrock, wo er für den Kontakt zu den wichtigsten Kunden in Europa, Afrika, dem Mittleren Osten und Asien zuständig ist, rund fünf Millionen Dollar im Jahr verdienen. Als OECD-Generalsekretär müsste er sich mit einem Grundsalär von gerade mal 232 626 Euro zufriedengeben. Auch wird er nicht für seine Kandidatur entschädigt, das Seco übernimmt allfällige Spesen über sein ordentliches Reisebudget.
Hildebrand ist als Blackrock-Manager und Partner der Agrarhandels-Milliardärin Margarita Louis-Dreyfus ein Exot im OECD-Rennen. Aber letztlich ist der ehemalige Nationalbank-Präsident Berns einzige Chance. Er war zwar nicht Minister, kann aber mit solchen umgehen, im Inland wie im Ausland. Und vor allem: Er kennt schon viele von ihnen, ja er ist wohl der Kandidat mit dem besten Netzwerk überhaupt – wegen seiner Vergangenheit bei der Nationalbank, beim Financial Stability Board, bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, aber auch dank Blackrock und seiner Mitgliedschaft beim erlauchten Kreis der «Group of Thirty», einem Club von Ministern, Notenbankern und Wirtschaftskapitänen. Und so trafen – kaum war Hildebrands Kandidatur bekannt – die ersten Gratulationsbekundungen ein, auch von ausländischen Staatschefs.
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Vergessen ist Hildebrands unrühmlicher Abgang im Januar 2012 wegen des Vorwurfs des Insiderhandels, hatte er doch nicht glaubhaft nachweisen können, dass seine damalige Frau kurz vor der Festlegung des Euro-Mindestkurses 400 000 Franken in Dollar ohne sein Wissen getauscht hatte. Funkstille herrscht auch bei der lautesten Hildebrand-Kritikerin SVP, die ihn wegen seiner ausgeprägten Internationalität nie mochte. SVP-Präsident Marco Chiesa äussert zwar auf Anfrage «persönliche und ethische Bedenken», betont aber gleichzeitig, dass dieses Rennen nicht in der Schweiz entschieden werde. Die Reihen wurden geschlossen, denn von innerschweizerischen Streitigkeiten profitiert höchstens die Konkurrenz.
Die schwierigste Hürde im Selektionsprozess ist die erste Runde. Diese startet in den ersten zwei Dezemberwochen mit den Hearings aller zehn Kandidierenden bei den in Paris ansässigen Botschaftern der OECD-Mitgliedsstaaten, die Corona-bedingt virtuell durchgeführt werden. Danach folgen «Konsultationen» unter der Leitung des britischen Botschafters Christopher Sharrock, der als Dekan dem Auswahlausschuss vorsitzt. Im Anschluss erstellen alle 37 OECD-Mitgliedstaaten je eine Rangliste mit allen zehn Bewerbern und Bewerberinnen, wobei dabei auch andere Faktoren als deren tatsächliche Qualitäten bewertet werden.
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Vielmehr geht es in dieser ersten Runde darum, für den eigenen Favoriten eine möglichst vielversprechende Ausgangslage zu schaffen – und potenzielle direkte Konkurrenten frühzeitig auszuschalten. Aus all den Zehner-Listen wird dann die erste Shortlist abgeleitet.
Die Ergebnisse der ersten Runde sollten voraussichtlich Anfang 2021 bekannt sein. Danach folgen drei oder vier weitere Runden, in denen die Namensliste immer kürzer wird. Die Ernennung des neuen Generalsekretärs oder der neuen Generalsekretärin muss dann einstimmig erfolgen – und gemäss Fahrplan bis spätestens am 1. März. Amtsantritt ist dann der 1. Juni.
Doch letztlich erfolgt eine solche Wahl weniger nach rationalen, sondern vielmehr nach machtpolitischen Kriterien. Experten schätzen die Lage deshalb wie folgt ein: Der amerikanische Kandidat Christopher Liddell, ein Trump-Mann, dürfte im Verlauf des Auswahlverfahrens auf der Strecke bleiben – nicht nur, aber auch wegen des Regierungswechsels in den USA. Der Kanadier William Morneau gilt ebenfalls als chancenlos, auch weil mit Donald Johnston schon mal ein Kanadier während zehn Jahren an der OECD-Spitze stand und keinen guten Eindruck hinterlassen hat: Als er 2006 den Chefposten räumte, war die OECD in die Tiefen der Bedeutungslosigkeit abgesunken.
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Lautstark Anspruch auf den OECD-Chefposten erheben nun die Europäer, standen sie doch während 25 Jahren aussen vor. Das widerspiegelt sich auch im vergleichsweise grossen Kandidatenfeld, treten doch – nebst Hildebrand – gleich sechs weitere Europäer an.
Die Favoriten: Der dänische OECD-Vize Ulrik Vestergaard Knudsen, die frühere schwedische Ministerin und EU-Kommissarin Cecilia Malmström (Mitte) und die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid.
Keystone/ReutersDie Favoriten: Der dänische OECD-Vize Ulrik Vestergaard Knudsen, die frühere schwedische Ministerin und EU-Kommissarin Cecilia Malmström (Mitte) und die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid.
Keystone/ReutersZum Kreis der Favoriten gehört sicher die frühere schwedische Ministerin Cecilia Malmström, die aber aufgrund ihrer langjährigen Arbeit als EU-Kommissarin auch Abwehrreflexe bei EU-Skeptikern hervorruft. Ebenfalls intakte Wahlchancen ausrechnen dürfen sich die estnische Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid sowie der frühere dänische Staatssekretär Ulrik Vestergaard Knudsen, der seit 2019 als stellvertretender Generalsekretär bei der OECD amtet und die Organisation auch von innen kennt.
Nur Aussenseiterchancen werden der Kandidatin und den zwei Kandidaten aus Griechenland, Polen und Tschechien zugestanden: der früheren EU-Kommissarin und Ministerin Anna Diamantopoulou, dem Umweltminister Michał Kurtyka und dem ehemaligen Minister Vladimír Dlouhý.
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Die Aussenseiter: Der frühere tschechische Minister und Handelskammerpräsident Vladimír Dlouhý (r.), der polnische Umweltminister Michal Kurtyka sowie die ehemalige griechische Ministerin und EU-Kommissarin Anna Diamantopoulou.
Keystone/CTKDie Aussenseiter: Der frühere tschechische Minister und Handelskammerpräsident Vladimír Dlouhý (r.), der polnische Umweltminister Michal Kurtyka sowie die ehemalige griechische Ministerin und EU-Kommissarin Anna Diamantopoulou.
Keystone/CTKDie Ausgangslage für die Europäer ist also gut, vorausgesetzt, sie können sich auf eine Person einigen, die zudem den Amerikanern passt. Denn auch wenn auf dem Papier alle 37 OECD-Mitglieder als gleichberechtigt gelten, sind faktisch einige Länder etwas gleicher als andere. Letztlich bestimmen auch in der OECD die grossen Machtblöcke, wo es langgeht, allen voran die USA, die mehr als ein Fünftel zum Budget beisteuern, und Japan. Und die EU, obwohl diese selbst nicht Mitglied ist, aber einen Sitz im OECD-Rat hat.
Die Hoffnung der Schweiz beruht letztlich auf einem Patt zwischen den USA und der EU. Sollten sich die Grossen gegenseitig nichts gönnen, dann schlägt die Stunde der Kleinen – und damit der Schweiz. Auf diese Vermittler- und Kompromiss-Karte dürfte auch der Australier Mathias Cormann, ein gebürtiger Belgier, setzen. Sein Vorteil: Er kann sich zusätzlich als Vertreter der asiatischen Länder verkaufen, die keine eigenen Kandidaten nominiert haben. Sein Nachteil: Australien gehört als angelsächsischer Staat eigentlich ins Lager der Amerikaner.
Die 1961 gegründete OECD erstellt mit ihren über 3000 Mitarbeitenden Statistiken, Analysen und Prognosen – etwa zu wirtschafts-, gesundheits- oder bildungspolitischen Fragen. Ihre Berichte setzen Standards. Doch ihren rasanten Aufstieg zu einer der heute mächtigsten Institutionen verdankt die Organisation letztlich der Finanzkrise und der Konstitution der G-20, der informellen Gruppe der 19 grössten Volkswirtschaften sowie der EU zum taktgebenden Gremium, das jedoch kein Sekretariat hatte. Eine Aufgabe, welche die OECD unter Ángel Gurría noch so gerne übernahm. Seitdem arbeiten die G-20 und die OECD Hand in Hand, wobei Generalsekretär Gurría ein feines Gespür für latent brisante Themen attestiert wird.
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Und so leistet der OECD-Analyseapparat denn die Vorarbeit, bindet Spitzenbeamte der Mitgliedstaaten ein, bevor die Dossiers an den Ministerrat und allenfalls an die G-20 weitergereicht werden, von wo sie dann wieder zurückkommen mit der politischen Order für eine konkrete Umsetzung. So hat es mit der Durchsetzung des automatischen Informationsaustauschs funktioniert, und so funktioniert es jetzt auch mit der angedachten Grosssteuerreform, mit welcher das Steuersubstrat global umverteilt werden soll.
Ursprünglich sollten damit die Gewinne der digitalen, meist betriebsstättelosen Firmen wie Google und Facebook «gerechter» verteilt werden, mittlerweile geht es aber um die Gewinne fast aller konsumorientierten Grossunternehmen. Auch wenn noch viele Fragen offen sind, dürfte die Schweiz als kleines Land mit wenig Konsumenten, aber verhältnismässig vielen Konzernsitzen als Verliererin vom Platz gehen.
Bundesbern gibt sich dennoch pragmatisch, mitmachen statt jammern heisst die Devise – und allfällige Schäden minimieren. Denn letztlich ist ein einheitlicher, für alle Länder verpflichtender Standard besser als ein globaler Flickenteppich nationaler Sonderlösungen. Dieses Ziel wird auch von der Wirtschaft geteilt und unterstützt. Dabei arbeitet Swiss Holdings, der Verband der hierzulande domizilierten Grosskonzerne, nicht nur eng mit den involvierten Bundesämtern zusammen, sondern auch vermehrt mit den Schwesterorganisationen aus Deutschland und Frankreich, wie Verbandsdirektor Gabriel Rumo sagt.
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Mittlerweile reift auch im Parlament die Einsicht, dass die OECD zu einer mächtigen Organisation aufgestiegen ist, die mit ihren globalen Standards auch die Politik im Inland bestimmt. Um die schleichende Schwächung der demokratischen Rechte und Institutionen wenigstens etwas abzufedern, hat der Ständerat und Präsident der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK), Christian Levrat, vorgeschlagen, eine permanente parlamentarische OECD-Delegation zu nominieren, die Einsitz nehmen könnte im OECD-Parlament, das rund 300 Personen zählt. Dann wäre Schluss mit dem heutigen Hobby-Betrieb, bei dem sich die Schweiz jeweils ad hoc von reisefreudigen Parlamentariern vertreten lässt, die gerne ein paar Tage in Paris verbringen.
Die ständerätliche WAK hat mittlerweile Levrats Vorhaben zugestimmt und es an ihre Schwesterkommission im Nationalrat weitergeleitet. Diese wiederum hat die aussenpolitische Kommission um ihre Meinung gefragt und auch dort ein O.K. erhalten. «Wunder geschehen», sagt Levrat. Vor fünf Jahren war er mit dem gleichen Anliegen noch aufgelaufen.
Auf ein kleines Wunder hoffen nun auch Parmelin und Hildebrand.
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