Guten Tag,
Wie man bei der Rückholaktion von Sergio Ermotti zur UBS wieder einmal lernen konnte: Nichts geht über den Wert der Erfahrung. Wer schon alles gesehen hat, kann die irritierenden Wirrungen der Gegenwart fundierter ableuchten.
Christiane Binder
Ging früher in Abschleppschuppen und musste nervigen Verehrern noch nie eine schallern: Christiane Binder hat schon vieles, wenn nicht alles gesehen.
Gisela Goppel / Kombinatrotweiss für BonanzaWerbung
Darf man sich über Velofahrer aufregen? In bestimmten Kreisen zumindest setzt dann Schnappatmung ein. Velofahrer:innen heisst das! Oder: Velofahrende. Persönlich ist mir das egal. Streit lohnt nicht. Mir von oben herab anzuhören, «ihr Boomer kapiert das halt nicht», noch weniger. Ist eh falsch.
Das «-Innen»-Problem wurde in den 80er Jahren bereits wütend diskutiert, grüne Gruppen adressierten Briefe an die lieben «MitgliederInnen». Irgendwann schlief das wieder ein. Grammatikalische Verrenkungen. Zu sperrig im Alltag. Und was hatte das mit mir zu tun? Die Idee, werweisswer müsse mich als Frau «sichtbar» machen, finde ich anmassend.
Es käme sowieso niemand auf die Idee, sich unter Velofahrern etwas anderes als eine bunt gemischte Gruppe vorzustellen. Männer, Junge, Alte, massenhaft Frauen und Mädchen. Frauen sind sichtbar und in einer Weise präsent, die in den 70er Jahren unvorstellbar war. Als Mehrheit sah man Frauen vormittags durch die Läden schwärmen, um Essen zu fassen für Ernährer und Kinder.
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Öffentliche Gremien, Hörsäle (ausser in Fächern wie Romanistik und Kunst), Parlamente, Gemeinde- und Schulbeiräte, Vereinsvorstände, Rundfunkgremien, Konzertsäle, Rockbands – überall Männer, Männer, Männer. Als am 16. Juni 1976 in Deutschland die erste Frau, Dagmar Berghoff, die heilige «Tagesschau» moderieren «durfte», vorsichtshalber erst mal um 16 Uhr, wenn nur Rentner und Kanarienvögel zuschauen, bebte es im Gebälk. Kann eine Frau schlimme Nachrichten ablesen, ohne in Tränen auszubrechen? Klingt gefühlt so weit weg wie die Zeit von Tutanchamun. Aber Jimi Hendrix war da erst seit sechs Jahren tot.
Unsere Autorin, Generation Babyboomer, beobachtet den Geschlechterkampf seit den Achtzigern – und beschreibt ihn furios.
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In Erinnerung geblieben sind die «Presseclubs» und «Frühschoppen» im Fernsehen. Ein Stammtisch mit gravitätischen Männern, die, umnebelt vom Qualm ihrer Zigaretten Marke «Lord», vor sich hin orakelten. Eine hübsch-huschende Servierkraft füllte hurtig die Weinhumpen nach. Ganz, ganz selten durfte eine Frau die Denker-Runde schmücken. Die junge Alice Schwarzer beispielsweise verdarb den Schwadroneuren das Vergnügen am akademischen Plaudern mit Brandreden gegen das gesetzliche Verbot von Abtreibungen, für die Pille, gegen Porno. Die Herren betrachteten die «Emanze» mit einer Mischung aus Argwohn, Häme und väterlicher Nachsicht.
Heute ist Alice Schwarzer eine alte weisse Frau, eine Legende, von eigener Bedeutsamkeit erfüllt – so werden wichtige Leute wohl im Alter, Männer wie Frauen. Seltsamerweise ist die «Frauenfrage» nicht mehr auf dem Radar der einstigen Vorkämpferin. Sie widmet sich lieber umstrittenen Projekten, den Weltfrieden zu retten.
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Vielleicht, weil die Millennial-Frauen Alice Schwarzer heute kaum noch kennen? Oder weil es, zumindest in deutschsprachigen Ländern, für sie keine Verwendungsmöglichkeit mehr gibt?
Für mich war Alice Schwarzer eher eine Popfigur, mit Unterhaltungswert, aber ohne Vorbildcharakter. So, wie Uschi Obermaier von der Kommune I, wow, war die hübsch, und wie sie ihren Langhans und andere weichklopfte, das fand ich toll. Klar, ich hatte eine Latzhose, aber eine in Hellgrün, und sie war im Alltag verdammt unpraktisch. Ich erinnere mich an diese Zeit weder als bleierne noch als optimistisch-frauenbewegte. Es gab halt Leute, die dachten so, und Leute, die dachten so. Das Korsett der gesellschaftlichen Umgangsformen dehnte sich. Wer irgendwas wirklich wollte, konnte das machen, jedenfalls, wenn er/sie dem Bildungsmilieu angehörte. Das Schlagwort war «Experimentieren»!
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Der krasse Unterschied zu heute: Alles lief analog. Die Algorithmierung des Glücks war unentdeckt. Männer und Frauen lernten sich in natura kennen. Im Tram, im Zug, im Café, in der Badi und an den häufigen Feten liess man die Augen schweifen, ein Blick hier, einer da, mal gar keiner. Heute geht das so: Sehen, bestellen, probieren – und dann passts nicht. Wie früher, bei den «Bekanntschaftsanzeigen» in der Zeitung (nur Print!), mit Chiffre. Der Traummann, «humorvoll, dem Leben zugewandt», entpuppte sich beim First Date als verknorzter Zausel.
Gehört Mannsein verboten? Muss Frau für die Karriere ihre Eizellen einfrieren? War früher alles einfacher? Fragen über Fragen, eine grässlicher als die andere.
Wir gingen in «Abschleppschuppen». Jungs suchten Mädels, und umgekehrt. Die Kerle in der Überzahl, Mädchen trauten sich eher nicht rein. Selten ging ich mit einer Freundin zusammen, das komplizierte alles, weil sie nach Hause wollte («Mir ist es hier zu laut»), wenn es interessant wurde. Wie die Spatzen auf dem Draht hockten sie aufgereiht, die Jungs, das prickelnde Abenteuer der Suche begann.
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Im Nachhinein war das für mich das beste Trainingslager. Ich wurde streetwise, lernte: welcher wie stark angeheitert und entsprechend gefährlich ist, wer zu einfältig, als dass man sich mit ihm abgibt, man spürte bald raus, wer falsch daherschmalkt und wer Komplimente ehrlich meint und, ganz wichtig, wie man bei wem welche Art von Abfuhr platziert. Am elegantesten war es, einen schwierigen Fachbegriff in den Smalltalk zu streuen («historischer Materialismus»), schon machte er sich eingeschüchtert aus dem Staub. Ich musste nie einem eine schallern. Alles in allem lernte ich eine Anzahl von Knalltüten kennen, und es war halb so aufregend, wie es klingt. Aber es blieben auch nette, lustige, liebenswerte Kerle hängen, normale Männer, hinter ihrer Fassade von Coolness und Biersaufen angenehm manierlich. Ja, es flatterten auch Schmetterlinge.
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Die Männer gibt es nicht, ich wundere mich, wie verbiestert sich heute über «toxische» Männlichkeit ereifert wird. Jeder Mensch ist anders, auch der männliche, in dem Bewusstsein bin ich aufgewachsen. Sicher, da sind die Kotzbrocken wie Putin oder die blöden Bärte in Afghanistan. Die müssen weg. Aber wenn ich in Natursendungen im TV sehe, wie hingebungsvoll und glücklich afrikanische Ranger verwaiste Elefantenkinder päppeln, dann freut mich das.
Vielleicht waren wir früher freier. Der Kopf war nicht vollgekleistert mit dem geballten Quatsch der Beziehungsratgeber, die Ende der 90er Jahre die Diskussion beflügelten. «Gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überallhin». Oder: «Warum Männer nicht zuhören und Frauen nicht einparken können». Mir zu platt, mir zu undifferenziert. Kannst du nicht einparken, übe es, fertig. Besser, mehr Lach-Ratgeber wären verkauft worden. Angesichts der Wut, mit der mittlerweile auf Mann-Frau-Themen herumgeritten wird, friert es mich. Selbst Schriftsteller geraten ins Visier, die eigentlich für ein intelligenteres Publikum schreiben, das sich ohne Erziehungs-Guide seinen Reim machen kann. Ich werde jedenfalls weiter David Foster Wallace lesen, obwohl er «misogyn» sein soll.
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Ich staune, dass sich die auskömmlichen, gutwilligen Männer, diejenigen, die wir aus unserem Alltag kennen, die wir täglich treffen und mit denen wir zusammenarbeiten und -leben, nicht gegen die Flut von Pauschalangriffen wehren. Als ob jeder ein Grapscher, Vergewaltiger oder sonst ein Unhold wäre.
«Neue Männer braucht das Land», sang 1982 Ina Deter, das Radio spielte die Songs der Neuen Deutschen Welle rauf und runter. Blicke ich jetzt, gut 40 Jahre später, aus dem Fenster, reibe ich mir die Augen. Scharenweise marschieren junge Väter vorbei mit ihren Buggys, die Kleinsten an der Hand. Auf dem Spielplatz helfen sie den Kindern routiniert auf die Rutsche. Trocknen Tränen, putzen Näschen. Kicken mit ihren Töchtern. In meiner Jugend war Fussballspielen für Mädchen ein Unding und reine Jungssache.
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Diese neuen Väter, alles andere als «Oberhäupter», wissen im Supermarkt, welches Gemüse im Angebot ist, sie kennen alle Putzmittelmarken samt den Scheuerlappen dazu und bringen unfallfrei eine Soja-Bolognese auf den Tisch, die weder verbrannt noch versalzen ist. Dass der schonungsbedürftige «Papi» nach Feierabend die Aktentasche auf den Tisch knallt, ein Bier aus dem Kühlschrank holt und den Rest des Abends vorm Fernseher oder im Hobbykeller verschwindet, ist ein Klischee aus den TV-Serien oller Schwarz-Weiss-Familienserien. Alfred Tetzlaff, das «Ekel», war schon in den 70ern als Satire gemeint.
Diese neuen Männer sind wirklich die Söhne, Enkel oder Urenkel jener altväterlichen Herren, die junge Feministinnen beäugten wie weisse Raben? Im Vergleich zu diesen selbstgefälligen Widerlingen ist heute alles besser. Manchmal kommt es mir vor, als hätten sich die Männer mehr verändert als die Frauen, die sich immer noch an die Opferrolle klammern. Männer und Frauen gehen heute unangestrengter, beiläufiger, pragmatischer miteinander um. Sogar die optischen Unterschiede verschwinden. Frauen tragen Sneakers, und prominente Männer (vorerst noch, bald alle?) wie Harry Styles oder Jared Leto führen Röcke spazieren. Das sieht nicht nach Fasnacht aus.
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In-den-Mantel-Helfen, Autotüre-Aufhalten, Stuhl-Zurechtrücken, das passt in diese Welt natürlich nicht mehr rein. Zwar sehe ich am Valentinstag im Migrolino die männlichen Teens in Hoody und Sackhosen Blumengestecke kaufen – doch der formvollendete Gentleman, den Richard Gere verkörperte, ist eine aussterbende Art. Wünscht sich unsereins, dass ihr jemand hilft, den Koffer ins Gepäckabteil zu hieven, muss sie fragen, damit einer sich bequemt, nicht selten widerwillig. In Notlagen, Auto stehen geblieben oder so, empfiehlt es sich, Männer mit multikulturellem Hintergrund anzusprechen, die sind traditioneller gestrickt. Bio-Schweizern ist spontane Hilfsbereitschaft von Natur aus nicht zu eigen.
Die neue Entspanntheit wirkt sich auch aufs Daten aus. Cis-Kerle heute reden vom Yoga, bei dem «sie ihre Mitte finden», geben zu, dass sie nahe an einem Burn-out sind und klagen, wie schlecht sie schlafen, oder lassen sich über die Zubereitungsgrade von Jakobsmuscheln aus. Schwärmerische Erzählungen vom letzten Motorradtrip oder langatmige Aufzählungen geschäftlicher Erfolge muss man sich kaum noch anhören. Ansonsten wird heute eher sondiert. Denn heutige Männer sind, meiner Erfahrung nach, im Prinzip willig, sich den Wünschen ihrer Frauen und Freundinnen anzupassen. Vorsichtshalber prescht man lieber nicht gleich los und tut besser etwas verklemmt.
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Das Problem «Wer zahlt?» darf bilateral geklärt werden, zumal wenn die Liebschaft sich länger hinzieht. Die Verhältnisse sind flexibel. Jüngere Männer nehmen Zahlungsversuche weiblicherseits ohne Zieren, sogar erfreut an. Eine Faustregel bleibt allerdings: Wenn er was «will», zahlt er, zumindest bei ein, zwei Treffen. Also lieber kein «Ich trinke gerne ein Glas mit», wenn der Anwärter in die Wüste geschickt werden soll.
Der wahre Fortschritt gegenüber früher ist aber, und das muss extra gesagt sein: Der schmierige Quatscher ist weg. Diesen Quassler kennen alle Boomer-Frauen. Eine penetrante Pestbeule, trieb er sich überall herum, an Partys oder Einladungen, («Ich sitze so gern neben einer hübschen Frau»), drehte Kuhaugen («Ich wollte, wir zwei wären jetzt woanders»), die Tatsch-Patschhand immer in Bereitschaft, kurz ans Knie zu schnellen, sogar wenn die eigene Frau oder Freundin danebensass. Auch jene lästige Sorte, die sich mit den Jungs in den Ecken rumdrückte, an der Art ihres Gelächters war kilometerweit zu hören, dass es um Sexuelles ging – die ist Geschichte.
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Wo mehrheitlich Millennials arbeiten, sind diese Plagegeister verschwunden. Auch die selbstherrliche Art, Frauen nicht zu Ende reden zu lassen oder deren Ideen zu übergehen, um sie danach als die eigenen zu feiern, verflüchtigt sich. «Me Too» mit zahlreichen spektakulären Kündigungen verhaltensauffälliger Chefs, auch in der Schweiz, scheint wie eine Art Fegefeuer gewirkt zu haben. Wenn Frauen heute am Arbeitsplatz nicht recht zum Zuge kommen, kanns auch daran liegen, dass der Chef schwul ist.
Alles gut also? Natürlich nicht, alles könnte besser sein, so ist das Leben. Doch wenn ich mich umsehe, was in dreissig, vierzig Jahren passiert ist, dann ist das gewaltig. Eine solide Basis, so weiterzumachen wie bisher. Vielleicht nicht so verbissen, Aggression erzeugt schlechte Vibes. Und ich sage weiterhin lieber «Velofahrer». Die sollten übrigens unbedingt rücksichtsvoller werden.
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