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Fussball-WM in Katar

«Für die FIFA steht viel auf dem Spiel»

Die Fussball-WM wirft ein grelles Licht auf das Emirat. Der britische Autor John McManus hat im Inneren recherchiert.

Dirk Schütz

John McManus im Auto

ZURÜCK IN LONDON John McManus hat für sein Buch «Inside Qatar» ein Jahr in dem Emirat gelebt.

Andrea Artz

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Er lebt mit seiner Familie in Ankara, doch wir erreichen John McManus in London – für die Hochzeit eines Freundes ist der britische Anthropologe für ein Wochenende eingeflogen. Ein Jahr hat er in Katar gelebt und dort für sein Buch «Inside Qatar» recherchiert. Erschienen ist es im Sommer. Seitdem ist er nicht mehr in das Emirat gereist. «Ich hoffe, dass mich die Behörden noch einreisen lassen.»

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Sie beschreiben in Ihrem Buch auf 390 Seiten die spezielle Kultur im Gastgeberland der bevorstehenden Fussball-Weltmeisterschaft. Wie weit lässt sich als Ausländer in das Innere des Emirats vordringen?

Nur elf Prozent der Bewohner Katars, also etwa 350 000 Menschen, sind katarische Bürger, und diese Staatsbürgerschaft lässt sich aussschliesslich durch Geburt erhalten. Die Einheimischen sind nicht unfreundlich, aber tiefere Freundschaften mit ihnen zu schliessen, ist fast unmöglich. Es gibt da eine klare Grenze, zumal die Einheimischen auch wissen, dass die Ausländer nie lange bleiben. Aber in der jüngeren Generation interessieren sich einige für die Aussenwelt und suchen den Kontakt. Diesem Teil steht eine grosse konservative Gruppe gegenüber, die sich abschottet und kaum Englisch spricht.

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Hatten Sie Zugang zur Herrscherfamilie der Al Thani?

Der Clan ist gross, er zählt gegen 30 000 Mitglieder. Ich habe einige von ihnen getroffen. Aber der Emir und sein innerster Zirkel sind nicht zugänglich.

Er hat gerade dem französischen Nachrichtenmagazin «Le Point» ein Interview gegeben, angeblich das erste seines Lebens.

Das Presseklima ist ganz anders als in England oder der Schweiz. Es gibt in Katar keine Pressekonferenzen des Emirs, er muss nichts öffentlich erklären. Wenn es Probleme gibt, werden sie hinter verschlossenen Türen gelöst.

Für kritische Berichte über den Emir drohen 15 Jahre Gefängnis.

Das Pressegesetz stammt aus den siebziger Jahren. Es enthält sehr viele Massnahmen, die wir als illiberal taxieren. Es gibt nur die offiziellen Statements des Emirs.

Dennoch rühmt sich Katar damit, mit dem Fernsehsender Al Jazeera das einzige TV-Netzwerk in der Golfregion mit freier Rede zu betreiben.

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Es gibt verschiedene Al Jazeeras, die englische und die arabische Version, und sie haben ganz andere Zielgruppen. Und es existiert die internationale und die nationale Berichterstattung. Es gibt viel guten Journalismus, aber vor allem für das Ausland. Im Inland sind die Medien sehr zahm.

Anthropologe in Ankara

John McManus wuchs in der englischen Stadt Leicester auf und studierte in Oxford «Modern Middle Eastern Studies». In der Universitätsstadt erwarb er auch ein Doktorat in Anthropologie. Das letzte Jahrzehnt verbrachte er vorrangig im Mittleren Osten und in der Türkei. Heute lebt er mit seiner Familie in Ankara. Er ist Autor verschiedener Sachbücher aus dem Grenzbereich zwischen Sport und Gesellschaft. Sein im Juli in Grossbritannien erschienenes Buch zur Fussball-Weltmeisterschaft trägt den Titel «Inside Qatar: Hidden Stories from One of the Richest Nations on Earth».

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie die katarische Regierung nach dem WM-Zuschlag 2010 hoch dotierte PR-Firmen wie Hill+Knowlton, Grey oder Blue Rubicon zum Imageaufbau engagiert hat. Hat das funktioniert?

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Ob es ihnen gelungen ist, das Narrativ zu verschieben, ist offen. Vielleicht hat es in manchen Ländern funktioniert, aber in vielen auch nicht. Katar wird vor allem in Europa noch immer mit der Ausbeutung von Niedriglohnarbeitern verbunden. Aber eben: Das ist in allen Golfstaaten so. Dass jetzt vor allem Katar diesen Ruf hat, ist die Folge davon, dass sie das grösste Sportereignis der Welt ausrichten.

Es war der britische «Guardian», der mit seiner Zahl von 6500 toten Gastarbeitern für den Bau der WM-Stadien die Debatte angeheizt hat. Die katarische Regierung spricht dagegen von gerade drei Toten. Was stimmt?

Die Schätzung vom «Guardian» ist nicht falsch, aber sie umfasst alle Todesfälle von Migranten über einen Zeitraum von etwa einem Jahrzehnt. Da ist dann auch ein IT-Consultant mit Mitte 50 dabei, der einen Herzanfall hatte, aber gar nicht am Stadionbau beteiligt war. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, hier Klarheit zu erhalten. Das Ergebnis ist: Wir werden keine endgültige Zahl bekommen. Das liegt auch an der fehlenden Bereitschaft der Regierung, die Todesursache bei bestimmten Fällen genau zu untersuchen.

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Wie hart waren die Arbeitsbedingungen beim Stadionbau?

Die USA haben eine grosse Militärbasis in Katar. Dort gibt es detaillierte Richtlinien, wie die Arbeiter bei der hohen Aussentemperatur arbeiten sollten. Für die anstrengendsten Aussenarbeiten heisst es dann etwa: 15 Minuten Arbeit, eine Stunde Pause. Belastend ist nicht nur die Hitze mit über 40 Grad, sondern auch die hohe Luftfeuchtigkeit. Die katarische Regierung dagegen hat zwar Arbeiten in der Tagesmitte zwischen Juni und September untersagt. Aber auch ausserhalb dieser Zeiten ist es zu heiss für viele Arbeiten. Was aber nichts daran ändert, dass die Zahl von 6500 Toten das Thema überdramatisiert hat.

John McManus

AUF DEM WEG 1,5 Millionen Gäste werden für die WM in Katar erwartet. Auch Buchautor McManus will dabei sein.

Andrea Artz
John McManus

AUF DEM WEG 1,5 Millionen Gäste werden für die WM in Katar erwartet. Auch Buchautor McManus will dabei sein.

Andrea Artz

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FIFA-Präsident Gianni Infantino hat die Zahl von drei Toten übernommen – beste PR für die Regierung.

Auch für die FIFA steht viel auf dem Spiel. Trotz vieler Einwände hat sie die WM im Jahr 2010 nach Katar vergeben. Die Berichterstattung ist sehr polarisiert. Es gibt sehr scharfe Kritik und oftmals extreme PR. Beide Seiten haben Elemente der Wahrheit.

Gemeinsam setzen Katar und FIFA zur Imagepflege auf Fussballbotschafter wie David Beckham, Lothar Matthäus oder Samuel Eto’o. Die Gagen sind geheim. Lohnt sich dieses Sportswashing?

Ich finde nicht, dass diese Ex-Profis das Imageproblem beheben konnten. Es wäre viel besser gewesen, wenn sich das Land mehr für westliche Journalisten geöffnet hätte, statt auf PR-Aktionen zu setzen. Mein Buch ist der Versuch, mit einem westlichen Blick die Lebenswirklichkeit in dem kleinen Land zu beschreiben. Das haben die Machthaber wohl kaum goutiert. Aber es gab auch keinen Druck auf mich. Fakt ist: Die Regierung glaubt weiterhin, die volle Kontrolle über das Narrativ behalten zu können.

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Katar will sich mit dieser WM ein weltoffenes, modernes Image verschaffen, doch im Westen überwiegen die negativen Töne. Geht die Rechnung für die Herrscher auf?

Es gibt einige Kataris, die sich wünschten, sich niemals für die WM beworben zu haben. Sie fragen: Warum diese negative Presse, warum diese Disruption? Jeder Einwohner hat die Auswirkungen gespürt: Bauarbeiten für Stadien und öffentlichen Verkehr, neue Strassen. Aber viele Bewohner freuen sich auch darauf, die Welt willkommen zu heissen. Länder wie die Türkei oder viele Staaten im Mittleren Osten werden bei uns oft schlecht verstanden. Da ist die erste WM in der arabischen Welt eigentlich eine gute Sache. Es ist eine Region, die den Fussball liebt. Das kommt leider alles zu kurz.

Schwarz oder weiss, Herr McManus?

★ Doha oder Dubai?

Doha – ist etwas wie zu Hause. Dubai setzt auf Massentourismus, ist aber auch nicht so liberal, wie es scheint.

★ London oder Ankara?

Ankara – London ist zu gross und zu teuer.

★ Erdogan oder Truss?

Brrr … Truss ist schon weg – niemand der beiden.

Pfund oder Franken?

Franken – ich bin für eine harte Währung.

★ Fussball-Weltmeister: England oder Brasilien?

Brasilien – die englische Mannschaft fällt leider etwas auseinander.

Scholz oder Macron?

Scholz – ich ziehe im Januar mit meiner Familie von Ankara nach Berlin.

Inflation oder Hyperinflation?

Inflation – ich hoffe, dass die Dinge unter Kontrolle bleiben.

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Der Lebensstil ist eben schwer vermittelbar in der westlichen Welt. Homosexualität ist verboten, der Emir hat drei Frauen, für ausserehelichen Sex drohen 15 Jahre Haft.

Die Golfstaaten kommen von einer ganz anderen kulturellen Tradition als Westeuropa. Wenn man an Gleichheit und Liberalismus glaubt, sind die dortigen Gesetze damit nicht kompatibel. Aber die WM ging auch nach Russland, das nicht für liberale Werte steht, etwa bei der Homosexualität. In der Praxis werden diese Gesetze in Katar zudem nicht scharf gehandhabt. Es gibt auch dort Homosexuelle.

Und sogar Tinder, wie Sie schreiben.

Ja, in den Hotels läuft einiges. Was einem menschlichen Grundbedürfnis entspricht, findet immer einen Weg.

Katar wurde 2017 mit einer Blockade anderer Golfstaaten belegt, vor allem Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate – angeblich, weil es Terror förderte. Wie steht es heute?

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Die Blockade ist seit Anfang 2021 vorbei. Die Beziehungen zwischen Katar und Saudi-Arabien haben sich verbessert, zu den Vereinigten Emiraten sind sie noch frostig. Es geht vor allem um lokale Rivalitäten. Die Golfstaaten haben ähnliche Modelle und suchen allesamt globalen Einfluss. Katar ging gestärkt aus dieser Phase hervor. Die Anschuldigungen waren so breit, dass sie die Ankläger delegitimierten. Es gab sogar Forderungen, Al Jazeera einzustellen. Vor allem für den grossen Nachbarn Saudi-Arabien wäre es seltsam gewesen, wenn die Blockade noch bestanden hätte. Seine Mannschaft ist ja selbst WM-Teilnehmer, und die Fans wollen die Spiele direkt vor ihrer Tür natürlich sehen.

Die geopolitsche Situation könnte zu WM-Beginn nicht besser sein. Katar hat das grösste Gasfeld der Welt, vor allem die Staaten aus Westeuropa stehen Schlange.

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Katar hat sehr viele Hindernisse bei seiner wirtschaftlichen Entwicklung überwunden – vor 50 Jahren war es noch eine arme Halbinsel mit gerade 120 000 Einwohnern, heute sind es mehr als drei Millionen. Die Kataris managen ihre Energieressourcen sehr gut. Sie sind etwa bei den Flüssiggas-Terminals führend und bauen Supertanker. Sie sind sehr geschickt darin, ihre globale Position auszubauen, durch das Gas, aber auch als Broker, etwa bei Verhandlungen mit den Taliban. Jetzt ist Europa verzweifelt und will unbedingt katarisches Gas kaufen. Das zeigt die doppelten Standards im Westen: Wir kritisieren die Arbeitsbedingungen, aber wir brauchen das Gas.

Der katarische Staatsfonds, die Qatar Investment Authority, ist ein internationaler Investor mit mehr als 450 Milliarden Franken Anlagevolumen und in der Schweiz etwa bei der Credit Suisse oder Glencore investiert. Bei der CS müssen die Kataris sehr viel Geld verloren haben. Was erfährt man in Katar über diesen mächtigen Grossanleger?

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Sehr wenig. Die Institutionen sind nicht die mediale Aufmerksamkeit gewohnt, die wir bei uns kennen. Sie müssen aber damit leben, das sie immer stärker in die Öffentlichkeit geraten. Dass sie sich abschotten, ist eine verpasste Gelegenheit.

Wie erfolgreich wird die WM?

Die Kataris haben so viel Zeit, Energie und Geld investiert, deshalb sollte es gut laufen. Aber es gab nie eine Fussball-WM in einem so kleinen Land, zusätzlich belastet durch all diese Menschenrechtsthemen.

Werden viele Fans aus Europa kommen?

Sicher weniger als sonst, wegen der Kosten. Die Kataris erwarten 1,5 Millionen Gäste, also die Hälfte der Bevölkerung.

Es gibt aber nur Unterkünfte für deutlich weniger Gäste.

Es wird viele Shuttle-Flüge von Muskat und Dubai nach Doha geben. Ohne Ticket kommt man während des Turniers nicht ins Land.

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Sind Sie selbst in Katar?

Ich habe einige Tickets. Wenn ich einreisen kann, werde ich dabei sein.

John McManus an seinem Schreibtisch

MAGNET KATAR Warum kommen so viele Ausländer in den Golfstaat? McManus: «Viele Arbeiter sehen die Chance, ihr ganzes Leben zum Besseren zu wenden.»

Andrea Artz
John McManus an seinem Schreibtisch

MAGNET KATAR Warum kommen so viele Ausländer in den Golfstaat? McManus: «Viele Arbeiter sehen die Chance, ihr ganzes Leben zum Besseren zu wenden.»

Andrea Artz

Sie haben für Ihr Buch lange zu dem Hauptkritik-Thema der WM recherchiert: der mutmasslichen Misshandlung von ausländischen Arbeitern beim Stadionbau. Ihre These: Diese Kritik greift zu kurz. Warum?

Für mich ist die interessantere Frage: Warum kommen so viele Arbeiter nach Katar? Es gibt alle diese Berichte über fehlende Rechte von Arbeitern, nicht bezahlte Löhne, schlimme Arbeitsbedingungen und sogar Todesfälle von gesunden Menschen. Dennoch strömen viele tausend Menschen in das Land. Und das zeigt: Das Problem sind vor allem die globale Ungleichheit und das Fehlen von wirtschaftlicher Perspektive in Ländern wie Bangladesh, Pakistan oder Nepal. Die Chancen für junge Menschen in diesen Ländern sind so erbärmlich, dass die Hoffnung auf eine Transformation des Lebens in dem Wüstenstaat überwiegt, auch wenn das Risiko des Missbrauchs bekannt ist. Die Gastarbeiter wollen ihren Traum verwirklichen. Es ist wie ein moderner Wilder Westen. Viele Arbeiter sehen die Chance, ihr ganzes Leben zum Besseren zu wenden. Doch die Situation führt eben auch zu sehr grossem Leid, und das ist eine Schande, weil es sich dieses reiche Land leisten könnte, entschiedener gegen diese Probleme vorzugehen.

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Ist das System in Katar schlimmer als in den anderen Golfstaaten wie etwa den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Saudi-Arabien?

Nein, es ist eher besser. Katar erhält einfach wegen der WM viel mehr Aufmerksamkeit. All diese Staaten, auch Kuwait und Bahrain, basieren auf diesem sogenannten Kafala-System, bei dem die Arbeitgeber als eine Art Sponsor die Arbeitskräfte ins Land holen, von Baustellen- bis zu Bürojobs. Diese Firmen haben viel mehr Macht als die Arbeitgeber etwa in Grossbritannien oder der Schweiz. Viele verhalten sich gemäss dem Gesetz, aber viele nutzen auch ihre Machtstellung aus und behandeln die Arbeiter schlecht. Katar hat als erster Golfstaat einen Mindestlohn eingeführt und die Regeln stark gelockert. Doch die Umsetzung funktioniert offenbar nicht immer. Es gibt immer noch Missbrauch.

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Ist es also nur ein PR-Gag, wenn Katar behauptet, dass es das Kafala-System abgeschafft habe?

Sie haben einige der schlimmsten Aspekte abgeschafft. Die Arbeiter brauchen jetzt keine Erlaubnis mehr, um das Land zu verlassen, und sie können auch ihre Jobs freier wechseln. Doch der Geist ist immer noch da. Nicht alle Arbeitgeber folgen.

Über die Autoren
Dirk Schütz

Dirk Schütz

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