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Ist Andy Jassy nur Platzhalter für eine triumphale Rückkehr von Jeff Bezos?

Andy Jassy steht seit zwei Jahren an der Spitze des US-Riesen Amazon. Seine Bilanz: gemischt. Seine Machtbasis: wacklig.

Matthias Hohensee

Matthias Hohensee

Einst wollte er Sportprofi werden. Heute führt Andy Jassy mit Amazon einen der grossen Tech-Konzerne.

Einst wollte er Sportprofi werden. Heute führt Andy Jassy mit Amazon einen der grossen Tech-Konzerne.

Sebastian Kim / AUGUST

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Doch, sagen die Menschen, die viel mit ihm zu tun haben, auch Andy Jassy platze hie und da der Kragen. Nur müsse man sich das nicht laut vorstellen, aggressiv oder herrisch. Sondern Jassy-mässig: leise und höflich, wenn auch ohne Mangel an Klarheit. Wie zuletzt im Sommer. Im Topmanagement beim Digitalkonzern Amazon ging es wieder einmal um die mangelnde Büropräsenz der Mitarbeiter. «Die Zeit des Widerspruchs ist vorbei», sagte CEO Jassy; mindestens drei Tage pro Woche habe jeder Mitarbeiter in der Zentrale in Seattle zu erscheinen. Wer damit nicht klarkomme, so Jassy weiter, «für den ist Amazon nicht der richtige Platz», der könne kündigen – bitte freiwillig.

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Vor knapp einem Jahr hat Jassy die Präsenzpflicht zum ersten Mal angeordnet. Und fast genauso lange wird im Konzern darüber gestritten. Mehrere zehntausend Amazon-Mitarbeiter haben eine Petition unterzeichnet und begehren gegen Jassys Plan auf. Sie wollen sich nicht in die modernen Türme in der Innenstadt zurückbeordern lassen und nicht an ihre Büroschreibtische, obwohl sie ihre Hunde mitbringen und in der Kantine sehr gut essen könnten.

Für Jassy hingegen ist die Präsenz ein Gebot der Fairness gegenüber den Hunderttausenden Mitarbeitern in Amazons Verteilzentren. Und er will sein Team um sich geschart wissen – von wegen Kreativität und Kommunikation.

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Es ist die jüngste und bisher schärfste Eskalation einer internen Debatte, die den grössten Internethandelskonzern und Cloud-Anbieter der Welt zu lähmen scheint. Sie steht stellvertretend für die Probleme Jassys zwei Jahre nach seinem Amtsantritt und für seine Art, sie (nicht) zu lösen. Zunächst entschieden unentschieden und stets auf Ausgleich bedacht – solange es die Lage zulässt. Später dann hart durchgreifend – sobald er keinen anderen Ausweg mehr sieht.

Jassy ist mit seiner Art weit gekommen. Als sein Vorgänger, Firmengründer Jeff Bezos, die Macht in Jassys Hände legte, schlossen viele im Konzern Wetten darauf ab, wie viele Monate im Amt er sich wohl würde halten können. Seither sind zwei Jahre vergangen. Umso mehr wird aktuell darüber spekuliert, ob er vielleicht doch nur ein Statthalter des Gründers ist – ein Platzhalter für die triumphale Rückkehr von Jeff Bezos.

Ein Sportfan wie Jeff Bezos

Jassy wuchs in der Nähe von New York auf, wollte einst Profisportler werden, Tennis oder Football. Als absehbar war, dass es dafür nicht reichte, erwog er eine Karriere als Sportmoderator. Es heisst, dass er im Keller seines Hauses eine Art Sportbar mit mehreren Displays aufgebaut habe, um den Spielen seiner geliebten New York Giants zu folgen.

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Jassy, der auf den ersten Blick wie ein Buchhalter wirkt, verbindet mit seinem Vorgänger bis heute die Liebe zum Wettbewerb. Er ist nicht weniger kämpferisch als Bezos. Aber lockerer. Und verspielter. So initiierte er früher eine Art Whiteboard-Darts, bei der Mitarbeiter sich darin messen konnten, mit Permanentmarkern auf Papierplakate zu zielen. Als geradezu «legendär» bezeichneten Weggefährten einen Chicken-Wings-Esswettbewerb Jassys, bei dem es darum ging, wer Pouletflügel am schnellsten herunterschlingen konnte.

Typisch Amazon: Wer wachsen will, muss viel fressen – und zwar schnell. Und Jassys Erfolge sind auf dem Papier durchaus beachtlich. Im zweiten Quartal ist der Konzern wieder zweistellig gewachsen, verzeichnete einen Gewinn von 6,7 Milliarden Dollar – doppelt so viel wie von Analysten erwartet.

«Jassy hat besonders das US-Handelsgeschäft wieder auf Effizienz getrimmt, lobt Analyst Brian Yarbrough von der Investmentbank Edward Jones. Erreicht hat der Chef das mit knallharten Massnahmen, die ihm zum Start niemand wirklich zugetraut hatte. Jassy hat 27'000 Stellen gestrichen, damit die höchste Zahl an Entlassungen in der Geschichte des Konzerns durchgedrückt und die Kosten gesenkt. Es traf dabei nicht nur die Warenlager, sondern auch das Management. Jassy, so wird kolportiert, habe Wert darauf gelegt, dass es alle Ränge traf.

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Doch zur Wahrheit gehört auch, dass Amazon sich viel zu viele erfolglose Geschäftsfelder leistet – und aussichtslose Projekte zu oft auch dann nicht einstellt, wenn ihr Scheitern längst offensichtlich ist. «Amazon verfolgt immer noch zu viele Ideen, statt sich auf richtig disruptive Ansätze zu fokussieren», sagt Mark Shmulik vom Analysehaus Bernstein. Ein Beispiel ist das geplante Satellitennetzwerk Kuiper, ein Breitband-Netzwerk, in das der Konzern zehn Milliarden Dollar investiert. Laut Shmulik ist der Wettbewerbsvorteil gegenüber Konkurrenten wie Elon Musks Starlink unklar. Bei Amazon wird kolportiert, dass Bezos das Projekt einst nur durchgedrückt habe, um im Rennen ums Weltall nicht hinter Musk zurückzufallen.

Öffentliche Midlife-Crisis

Dass Jassy trotz allem an dem Bezos-Spielzeug festhält, lässt sich als Beleg dafür deuten, dass Bezos noch einmal zurückkehrt an die Spitze des Konzerns – Gerüchte, die derzeit besonders intensiv kursieren. Ihren Ursprung haben sie in der Analyse von Bezos’ Abgang 2021, als sich ganz Amazon und die halbe amerikanische Gründerszene wunderte, warum ausgerechnet der fast besessen rackernde Bezos sich plötzlich zurückzog. Schnell machten zwei Theorien die Runde.

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Einige meinen, dass der Multimilliardär mal eine Auszeit brauchte, sein Geld und sein Leben mal geniessen wollte. Und tatsächlich: Bezos hat vor den Augen der Öffentlichkeit seine Midlife-Crisis ausgelebt, sich nach 25 Jahren Ehe von seiner Frau MacKenzie Scott getrennt, sich mit der TV-Moderatorin Lauren Sánchez verlobt.

Die Zeiten, als Bezos in einem klapprigen Honda Accord zur Arbeit fuhr und aus Kostengründen Tapeziertische statt Büromöbel orderte, sind lange vorbei. Heute ist er einer der grössten Landeigentümer der USA, sammelt Luxusanwesen in Hollywood, Washington, New York und Hawaii – und steuert seine Domizile gern mit seinem Gulfstream-Jet an.

Bezos wird im nächsten Jahr 60. Früher wirkte er mit seinen ausgebeulten Chinos und blauen Hemden wie das Klischee eines Nerds. Heute verkörpert er in seinen Massanzügen den Typus des gebräunten Geheimagents, stählt seinen Körper mit Hanteln und Gewichten – und stellt ihn zur Freude der Paparazzi auf seinen Yachten im Mittelmeer und in der Karibik zur Schau. Als er Anfang August die Verlobungsparty auf seinem 500 Millionen Dollar teuren Schiff «Koru» vor der Amalfiküste feierte, waren Bill Gates, Leonardo DiCaprio und Wendi Murdoch, Ex-Frau von Medienzar Rupert Murdoch, mit an Bord. Warum auch nicht? Bezos machte immerhin rund 8,5 Milliarden Dollar locker, um für Amazon das Filmstudio MGM zu übernehmen.

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Die zweite Theorie besagt: Bezos dämmerte Ende 2020, dass die besten Zeiten von Amazon vorbei sind, zumindest vorübergehend. Er hatte während der Covid-Krise wie im Rausch das Logistiknetz seines Konzerns ausbauen lassen, fast 800'000 neue Mitarbeiter angeheuert. Angeheizt von Bestellungen quarantänegeplagter Menschen und Unternehmen, die nach Internetkapazitäten lechzten, kletterte Amazons Profit auf einen Rekord von 33  Milliarden Dollar. Die Börse taxierte den Wert von Amazon auf zwei Billionen Dollar. Der Konzern spielte in einer Liga mit Apple und Microsoft.

Zugleich sorgten sich Politiker wegen der wachsenden Marktmacht Amazons – und kündigten an, den Konzern aufzubrechen. US-Präsident Joe Biden setzte mit Lina Khan eine entschiedene Amazon-Kritikerin an die Spitze der US-Wettbewerbsbehörde FTC. Bezos musste sich wie Meta-Chef Mark Zuckerberg und Apple-CEO Tim Cook vor dem US-Kongress stundenlang wegen seiner Geschäftspraktiken rechtfertigen.

Zum ersten Mal räumte er damals ein, dass Amazon möglicherweise unzulässig Daten ihrer Händler genutzt habe, um eigene Produkte zu entwickeln: Futter für Wettbewerbshüter, die in den USA und Europa Monopolklagen vorantreiben.

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Rekordzahlen bei gleichzeitig anschwellendem Gegenwind – es war die beste Zeit für Bezos, um den Rückzug anzutreten. Und tatsächlich verklagte Ende September die FTC und mit ihr die Generalstaatsanwälte von 17 US-Bundesstaaten Amazon wegen Missbrauch ihrer Marktmacht. «Amazon ist ein Monopolist», behauptet Khan. Angeblich müssen Händler, die Amazons Plattform nutzen, von zwei verdienten Dollar einen an den Konzern abführen. Die FTC hält das für überzogen.

Das Timing würde passen

Für wie wahrscheinlich man nun Bezos’ Rückkehr hält, hängt auch davon ab, welcher der beiden Theorien man anhängt. Die Midlife-Crisis scheint sich bei Bezos eher zu einer nachgeholten Jugend auszuweiten: Die fast wöchentlich erscheinenden Selbstporträts mit wechselnden Spassgesellschaften deuten nicht darauf hin, dass Bezos ihrer schon müde wäre. Ganz anders stellt sich die Situation für jene dar, die in Bezos nach wie vor vor allem den Geschäftsmenschen erkennen wollen. Sie argumentieren: Der Zeitpunkt für einen Wiedereinstieg könnte kaum besser sein.

Denn tatsächlich ist es nach Bezos’ Ausstieg exakt so gekommen, wie es dem Gründer geschwant hatte: Das Pendel schlug vom Corona-Hoch zurück. Die Bestellflut ebbte aus Angst vor einer Rezession abrupt ab; selbst im boomenden Cloud Computing drückten die Unternehmenskunden auf die Kostenbremse.

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Der Zeitpunkt für den Wiedereinstieg von Amazon-Gründer Jeff ­Bezos beim Tech-Konzern könnte kaum besser sein.

Der Zeitpunkt für den Wiedereinstieg von Amazon-Gründer Jeff Bezos beim Tech-Konzern könnte kaum besser sein.

Getty Images
Der Zeitpunkt für den Wiedereinstieg von Amazon-Gründer Jeff ­Bezos beim Tech-Konzern könnte kaum besser sein.

Der Zeitpunkt für den Wiedereinstieg von Amazon-Gründer Jeff Bezos beim Tech-Konzern könnte kaum besser sein.

Getty Images

Im vergangenen Jahr verbuchte Amazon einen Rekordverlust von 2,7 Milliarden Dollar, nicht zuletzt wegen der Beteiligung am Tesla-Konkurrenten Rivian, dessen Bewertung stark sank. Auch Amazons Börsenbewertung halbierte sich. Erst jetzt beruhigen sich die Geschäfte – eine gute Gelegenheit, um die nächste Expansionsstufe zu zünden.

Und Bezos legt den Schalter um? Nun, das Szenario hat eine Schwäche: Andy Jassy. Schliesslich hat Bezos selbst ihn aufgebaut, geformt, auf den Schild gehoben.

Im Rückblick lässt sich dessen Aufstieg fast auf den Tag genau datieren. Es ist 2002. Jassy ist Mitte 30, seit fünf Jahren bei Amazon. Gleich nach seiner Abschlussarbeit an der Eliteuni Harvard hat der Marketingexperte dort 1997 angeheuert, drei Wochen vor dem Börsengang. Und Jassy macht sich rasch einen Namen, auch dank seines fotografischen Gedächtnisses. Er ist jemand, der aus dem Stand sicher Zahlen rezitieren kann. Das imponiert Bezos.

2002 führt Jassy bereits die Musiksparte, als der Amazon-Gründer ihn zu sich zitiert. Er möchte Jassy als Assistenten engagieren, als eine Art zweites Hirn, das ihn begleitet und berät. Es ist die Riesenchance für eine steile Karriere. Jeder hätte sich darum gerissen. Und Jassy? Hakt erst mal nach. «Die Aufgabe war mir etwas unspezifisch», wird er später erzählen: «Wir haben dann noch mal daran gefeilt.» Das Ergebnis: Der Assistent begleitet den Konzernchef auch zu Meetings, die eigentlich unter vier Augen gedacht sind.

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So wird Jassy zum Schatten von Bezos. Bald kennt keiner ausser Bezos Amazon so gut wie er. Und dann baut Jassy sich das Sprungbrett an die Spitze: Er ist es, der den ersten Geschäftsplan für die Cloud-Computing-Sparte schreibt und dann auch noch umsetzt. Amazon Web Services wird eine Goldgrube für Amazon. «Niemand hat gedacht, dass es so gross werden würde. Es hätte auch anders ausgehen können», kokettiert Jassy damals gegenüber der deutschen Zeitschrift «WirtschaftsWoche».

Der Erfolg prädestiniert ihn zum Kronprinzen von Bezos. Als sein interner Konkurrent Jeff Wilke, der das Handelsgeschäft von Amazon aufgebaut hat, sich zurückzieht, ist der Weg frei. Trotzdem, sagt Jassy, sei er überrascht gewesen, als ihm Bezos im Januar 2021 die Nachfolge angetragen habe. Und er bittet, wie damals bei der Assistenzstelle, um Bedenkzeit. Verzögerte Entschlussfreude. Mal wieder. Am Ende übernimmt er den Job. 

An seiner Loyalität gegenüber Bezos hat Jassy seither keinen Zweifel gelassen – und doch häuften sich im Laufe der Zeit Entwicklungen, die sich wie ein Prozess der Abnabelung lesen. So vergraulte Jassy nach und nach wichtige Bezos-Getreue aus dem sogenannten S-Team. Das S steht für Senior, also für die oberste Führungsebene, persönlich ausgewählt vom CEO.

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Dave Clark, zuständig fürs Handelsgeschäft, trat 2022 zurück. Ihm wird angelastet, das Lagerhausnetz von Amazon zu aggressiv ausgebaut zu haben. Und jüngst hat Dave Limp seinen Rückzug angekündigt. Der ehemalige Apple-Manager war seit 2010 für die Produktsparte zuständig, darunter den Kindle, die smarten Echo-Lautsprecher und vor allem die digitale Assistentin Alexa.

Auch Kommunikationschef Jay Carney ist nicht mehr dabei. Der ehemalige Pressesprecher des Weissen Hauses schürte den Konflikt mit US-Politikern und kam damit bei Bezos, zu dessen Ruf es gehört, keinem Streit aus dem Weg zu gehen, hervorragend an. Anders bei Jassy, der mehr auf Diplomatie als auf Konfrontation setzt. «Jassy kommt sehr strategisch und rational rüber, das tut dem Unternehmen gut», sagt Stephan Ritter, Handelsexperte beim Beratungsunternehmen Publicis Sapient. Auch im Umgang mit Analysten pflegt er einen anderen Stil. Bezos, der seine Karriere an der Wall Street gestartet hatte, hatte es nie verwunden, in der harten Phase nach dem Platzen der Dotcom-Blase von Analysten als Scharlatan diffamiert zu werden. Die Präsentation der Quartalszahlen überliess er seinem Finanzchef. Jassy hingegen tritt persönlich an, beantwortet Fragen. Das hat ihm Sympathie und Glaubwürdigkeit an der Wall Street verschafft. «Andy ist unglaublich leidenschaftlich, kann Sachen tief durchdenken und ist sehr sichtbar im Unternehmen», lobt Adam Selipsky, sein Nachfolger auf dem Chefsessel von Amazon Cloud Services.

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Wer braucht noch Bezos?

Vor allem hat Jassy die Strategie von Amazon verändert, buhlt wieder um mehr Vertrauen bei Händlern. Dazu passt, dass Jassy die Eigenmarken zurückfahren will, die den Wettbewerbshütern ein Dorn im Auge sind. «Die Markenunternehmen gewinnen Vertrauen, wieder stärker auf Amazons Handelsplatz zurückzukehren, meint Ritter, «das ist Jassys Verdienst.» Auch das Logistiknetz hat er neu ausgerichtet. Die Waren sollen bei Bestellungen nicht mehr quer durchs Land transportiert, sondern von regionalen Hubs ausgeliefert werden – auch dann, wenn es zulasten der Zustellzeit geht.

Der stille Jassy – er hat das Werk von Gründervater Bezos nicht nur weitergeführt, sondern den Paten vielleicht schon überflüssig gemacht im Konzern. Seit Jahresanfang ist die Amazon-Aktie wieder im Aufwind, hat fast 50 Prozent zugelegt; die Bewertung steht wieder bei 1,3 Billionen Dollar: Nimm das, Jeff!?

Jassy ist der Öffentlichkeit noch immer nicht gut bekannt. Und? Ihn selbst scheint es nicht zu stören. Er, der mal als Profisportler im Rampenlicht stehen wollte, hat es ganz ohne Lärm in die erste Liga geschafft, an die Spitze eines der bedeutendsten Konzerne der Welt. Im Schatten von Bezos wird er immer stehen. Aber auch dort kann man strahlen.

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