Guten Tag,
Oliver Zimmer stimmte gegen den Brexit, heute ist er froh, dass Gesetze in London gemacht werden. Umso mehr, als seine EU-Skepsis grösser wurde.
Florence Vuichard
Oliver Zimmer wohnt im acht Kilometer südlich von Oxford gelegenen Garsington. Drei Fussminuten von seinem Zuhause steht die St Mary’s Church, erbaut im normannisch-frühenglischen Stil gegen Ende des 12. Jahrhunderts.
Andreas Artz für BILANZWerbung
Am 1. Januar hat er seine EU-Mitgliedschaft verloren. Doch Oliver Zimmer, dem Schweizer Historiker mit britischem Pass, ist das noch so recht, denn er kann mit dem transnationalen Konstrukt ohnehin wenig anfangen. Mit dieser Haltung ist er an der University of Oxford, wo er seinen Lehrstuhl hat, eher die Ausnahme – aber kein Aussenseiter. Denn in Grossbritannien werde Meinungsvielfalt respektiert, sagt er. Jedenfalls stärker als in der Schweiz, wo man gar rasch als SVP-Sympathisant abgestempelt wird. «Das bin ich nicht», sagt Zimmer, vielmehr sieht er sich als «kritischen Liberalen».
Herr Zimmer, war eigentlich der 23. Juni 2016 ein Freudentag für Sie?
Oliver Zimmer: Nein, nicht wirklich. Ich hatte bei der Brexit-Abstimmung damals «Remain» gestimmt. Heute würde ich «Leave» stimmen. Ich bin mit dieser Haltung nicht allein.
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Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Man kann die Wiederwahl von Boris Johnson als Premierminister im Dezember 2019 durchaus als Bestätigung der Brexit-Abstimmung interpretieren. Denn mit einer so deutlichen Mehrheit hatte niemand gerechnet. Es war auch eine Antwort auf die Kapriolen der Parlamentarier, die alles versucht haben, den Brexit-Entscheid rückgängig zu machen. Oder ihn irgendwie abzuschwächen.
Wieso haben Sie als bekannter EU-Kritiker denn 2016 für «Remain» gestimmt? Und weshalb haben Sie jetzt Ihre Meinung geändert?
Damals hatte ich noch Hoffnungen, dass die EU bereit sei, sich zu wandeln und moderater zu werden. Doch diese gut vier Verhandlungsjahre mit Grossbritannien haben gezeigt, dass die EU auf ihrem bundesstaatlichen Ansatz beharrt respektive diesbezüglich sogar noch härter geworden ist.
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Kommen Ihnen nicht Zweifel, wenn Sie jetzt Lastwagenstaus an der Grenze oder die leeren Gemüseregale sehen? Oder wenn Sie hören, wie Firmen Arbeitsplätze in die EU verlagern wollen?
Die Medien im deutschsprachigen Raum sind sehr pro EU, weshalb sie nur über Probleme berichten …
… das ist jetzt aber ein bisschen gar einfach.
Nein. Die Berichterstattung ist sehr stark darauf fokussiert aufzuzeigen, dass die Briten jetzt nach dem Brexit im Schlamassel stecken. Plötzlich berichtet jede Schweizer Tageszeitung über die britischen Fischer, sodass man fast meinen könnte, die Fischerei sei das Kerngeschäft der britischen Wirtschaft.
Die Fischer waren nun mal grosse Befürworter des Brexit, und nun müssen sie sehen, dass kaum etwas von dem erfüllt wird, was man ihnen im Vorfeld versprochen hat.
Als Fischer wäre ich auch enttäuscht. Und ja, natürlich gibt es jetzt zahlreiche Probleme, aber das ist doch nicht überraschend. Das muss sich alles zuerst noch einspielen. Das heisst aber nicht, dass der Brexit gescheitert ist. Im Gegenteil. Im Zentrum steht die souveränitätspolitische Frage, also die Frage, wo die Gesetze gemacht werden. Und in Grossbritannien ist das nun wieder im britischen Parlament. Das ist ein grosses Plus. Denn letztlich sind Staaten über ihre Parlamente und in der Schweiz zusätzlich über die direktdemokratischen Instrumente legitimiert. Der Brexit war ein politisches Verdikt, kein ökonomisch motivierter Entscheid. Wer für den Brexit gestimmt hat, hat dies nicht getan, weil er sich erhoffte, dass es ihm nachher besser geht.
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Oliver Zimmer ist 1963 in Thalwil ZH geboren. Nach seinem Geschichtsstudium an der Universität Zürich verliess er die Schweiz Richtung Grossbritannien, wo er an der London School of Economics seinen Ph.D. machte und dann eine akademische Karriere einschlug: zuerst an der Universität von Durham, ab 2005 in Oxford. Seit 2014 ist er Professor für Moderne Europäische Geschichte an der Universität von Oxford. Im November 2020 ist sein Buch «Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie» (Echtzeit-Verlag) erschienen, das innert fünf Wochen vergriffen war und jetzt in zweiter Auflage vorliegt.
Die Fischer vielleicht schon. Zudem hat das «Leave»-Lager versprochen, Unsummen an Geldern im Inland zu investieren, statt diese nach Brüssel zu schicken.
Ja, das stimmt: Die Befürworter haben versprochen, dank des Brexit zusätzlich 350 Millionen Pfund ins nationale Gesundheitssystem investieren zu können, die Gegner haben vor einem wirtschaftlichen Einbruch gewarnt. Letztlich hat wohl kaum jemand diesen Kampagnen geglaubt. Die Leute hatten einfach genug von der Bevormundung.
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Und von den vielen Einwanderern.
Das stimmt so nicht. Die Briten äussern sich bei Umfragen regelmässig toleranter zur Immigration als die Kontinentaleuropäer. Zudem sind die Bürgerinnen und Bürger des Commonwealth, sofern sie ihren Wohnsitz hier haben, bei nationalen Abstimmungen stimm- und wahlberechtigt. Meine Frau zum Beispiel stammt aus Malaysia und konnte, seit sie hier ist, immer wählen. Grossbritannien ist aufgrund seiner Geschichte globaler ausgerichtet als Kontinentaleuropa, seine Loyalitäten sind stark auf den Commonwealth gerichtet. So offeriert Grossbritannien etwa als einziges Land der Welt ein Visum für die von der autoritären Volksrepublik China unterdrückten Bewohner Hongkongs. Man rechnet damit, dass in den nächsten zwei Jahren rund eine Million Hongkong-Chinesen hierher einwandern werden.
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Aber die Personenfreizügigkeit mit der EU war doch umstritten.
Aus Sicht vieler Briten war die Personenfreizügigkeit eine Diskriminierung zugunsten weisser Europäer, was ja faktisch auch stimmt. Erst mit dem Brexit geniessen Bewerber aus der EU und aus Malaysia oder Indien auf dem Arbeitsmarkt die gleichen Chancen.
Seit 2009 hat Oliver Zimmer nebst dem schweizerischen Pass auch den britischen. Seit dem Brexit ist er nun ein doppelter Nicht-EU-Bürger.
Andreas Artz für BILANZSeit 2009 hat Oliver Zimmer nebst dem schweizerischen Pass auch den britischen. Seit dem Brexit ist er nun ein doppelter Nicht-EU-Bürger.
Andreas Artz für BILANZWas für Hoffnungen setzen Sie in den Brexit?
Grossbritannien bräuchte innenpolitisch dringend einen neuen Gesellschaftsvertrag, zu gross sind die Unterschiede innerhalb des Landes, zwischen den Landesteilen, zwischen den Klassen. Das zeigt sich etwa bei der Infrastruktur, die hierzulande schlecht ist. In der Londoner City mag der öffentliche Verkehr funktionieren, aber sobald man etwas rausfährt aufs Land, harzt es gewaltig. Grossbritannien bräuchte eine Infrastrukturrevolution, aber ich bezweifle sehr, dass es eine geben wird. Derzeit sieht es so aus, dass die Regierung sich lieber festklammert an irgendwelchen überteuerten Prestigeprojekten aus der Ära Cameron wie dem Highspeed-Railway nach Birmingham.
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Stehen Sie eigentlich hinter dem bilateralen Weg der Schweiz?
Ja, klar. Wieso?
Weil Sie das Rahmenabkommen bekämpfen, mit dem der bilaterale Weg gefestigt werden soll.
Das stimmt einfach nicht, das Rahmenabkommen ist nicht die Fortsetzung des bilateralen Wegs.
Es ist aber ein Vorschlag, wie sich die Schweiz den Marktzugang in ausgewählten Bereichen sichern kann.
Und ein Vorschlag, der eine dynamische Rechtsübernahme beinhaltet und mit dem wir akzeptieren, dass die Oberhoheit über Gesetze und Regulierungen beim Europäischen Gerichtshof liegt. Das entspricht einer fundamentalen Änderung des Status quo. Mit dem Rahmenvertrag betreten wir das Vorzimmer der EU, und das Vorzimmer kann man nur durch die Beitrittstüre verlassen.
Das behaupten Sie.
Nein, das sagen mir ehemalige Chefbeamte des Bundes mit Verhandlungserfahrung.Der Rahmenvertrag ist wegen der Guillotine-Klausel praktisch nicht kündbar. Und diese Konstruktion mit den Schiedsgerichten ist reine Augenwischerei.
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Wieso? Dank des Mechanismus mit den Schiedsgerichten erhält die Schweiz die Möglichkeit, eine EU-Gesetzesänderung nicht zu übernehmen. Die EU könnte dann nicht mehr willkürlich Vergeltungsschläge anordnen, wie es etwa mit der Nichtanerkennung der Börsenäquivalenz der Fall ist. Der Preis für das Abseitsstehen der Schweiz müsste verhältnismässig sein.
Das heisst aber auch, dass wir einen Mechanismus anerkennen, mit dem wir zu Recht abgestraft werden können, wenn wir anderer Meinung sind. Ist das einer Demokratie würdig? Ein guter Freund von mir ist für den EU-Beitritt, das ist nicht meine Meinung, aber es ist die ehrlichere Haltung als das Ja zum Rahmenvertrag, gekoppelt mit der Behauptung, dabei handle es sich um eine simple Fortführung des bilateralen Wegs.
Take back Control: «Der wahre Kern des Slogans ist, dass Gesetze wieder hier in London gemacht werden.»
Andreas Artz für BILANZTake back Control: «Der wahre Kern des Slogans ist, dass Gesetze wieder hier in London gemacht werden.»
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Als EU-Mitglied könnte die Schweiz versuchen, die EU zu reformieren, demokratischer zu machen.
Ja, hoffen kann man immer. Ich denke aber, dass das nicht realistisch ist. Die Tendenz zum EU-Zentralismus hat eher zugenommen. Die EU ist ein Projekt der Ungeduld, es ist der Versuch, eine historische Entwicklung zu beschleunigen und diese, immer dem Ideal einer aufgeklärten Technokratie folgend, von oben herab und mittels einer transnationalen Rechtsprechung zu steuern. Als Historiker aber muss ich sagen: Das funktioniert so nicht, diese Abkürzungen gibt es nicht. Loyalität wächst von unten heran und braucht Zeit, so wie es auch bei den Nationalstaaten rund 150 Jahre gebraucht hat, bis diese als Zugehörigkeitsort anerkannt waren. Es gibt noch keine starke europäische Identität, die der EU diese Legitimität geben könnte. Auch wenn es die Anhänger des «neumodischen Liberalismus», wie ich das nenne, nicht verstehen wollen.
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Sie sagen, es gebe keine Abkürzungen. Könnte aber der Zweikampf zwischen den USA und China nicht dazu führen, dass sich Europa als dritter Machtblock positionieren muss? Und dass folglich der Prozess der «EU-isierung» beschleunigt wird?
Das ist das Lieblingsargument der EU-Kommissionspräsidenten. Die Frage ist nur: Brauchen wir eine EU, um gegen China und USA zu bestehen? Ich denke nicht. Bei Bedarf können sich die europäischen Länder auch sonst organisieren. Die Affinität zu den Nachbarstaaten gibt es ja schon, dazu braucht es keine EU.
Sie sprechen vom «neumodischen Liberalismus». Was verstehen Sie darunter?
Der Liberalismus war immer stark der universalistischen Idee verpflichtet, derzufolge sich aus dem Kleinen das grosse Ganze, aus der kleinen Gemeinschaft die Menschheit bildet. Wenigstens in der Theorie. In der Realität hingegen mussten die Liberalen die konkreten Probleme vor Ort lösen und ihre universalistischen Träumereien auch mal beiseiteschieben. Aber mit der Globalisierung in den letzten 30 Jahren hat sich die Idee verfestigt, dass die Nationalstaaten etwas Ewiggestriges sind und dass die EU für die Zukunft steht. In diesem «neumodischen Liberalismus» steht alles Transnationale und Globale für den Fortschritt, alles Nationale wird als hinterwäldlerisch taxiert.
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★ Rotwein oder Weisswein? Rotwein.
★ Schweizer Nati oder Three Lions? Fussball interessiert mich nicht.
★ Beatles oder Rolling Stones? Rolling Stones.
★ «NZZ» oder «The Guardien»? «NZZ». Es ist noch immer die beste Tageszeitung der Schweiz. Ich lese auch den «Telegraph», den «Guardian», die «Times» und den «Spectator».
★ Alfred Escher oder Jakob Stämpfli? Jakob Stämpfli, wobei ich mit seinem radikalen Antiklerikalismus nichts anfangen kann. Die Schweiz ist letztlich das Resultat einer Fusion aus Escher und Stämpfli.
★ Toblerone oder After Eight? Toblerone! Dieses Pfefferminz-Ding ist schrecklich.
★ Boris Johnson oder Theresa May? Boris Johnson.
★ Economiesuisse oder Gewerkschaftsbund? Gewerkschaftsbund.
In der Schweiz ist es aber gerade umgekehrt. Da werden jene schräg angesehen, die sich für den EU-Beitritt aussprechen – als hätten sie sich «gerade zu den Taliban bekannt», wie es der Schriftsteller Jonas Lüscher jüngst im Gespräch mit BILANZ formuliert hat.
Ich sehe das nicht so. Es stimmt aber, dass der «neumodische Liberalismus» starken Gegenwind erhalten hat. Der Brexit ist nur ein Beispiel dafür. Der «neumodische Liberalismus» ist ein Elitetraum, entkoppelt von der Realität.
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Was war der Auslöser für diesen Gegenwind? Die Finanzkrise?
Das war sicher ein wichtiges Ereignis, das die Grenzen der unkontrollierten Globalisierung aufgezeigt hat. In puncto EU sind es aber andere Faktoren. Der Brexit-Slogan «Take back control» bringt es gut auf den Punkt: Der wahre Kern des Slogans ist tatsächlich, dass Gesetze wieder hier in London gemacht werden.
Ganz frei ist Grossbritannien aber nicht, die Souveränität hat Grenzen. Werden gewisse EU-Standards nicht eingehalten, drohen höhere Zölle.
Absolute Souveränität gibt es nicht, das ist doch klar. Sonst könnte man keine internationalen Verträge abschliessen. Aber es ist auch klar: Das Parlament eines EU-Mitgliedstaates hat eine beschränktere Souveränität als das Parlament eines Nichtmitglieds.
Die EU ist doch für viele Politiker eine willkommene Ausrede: Alle unpopulären Entscheidungen werden als Befehl von Brüssel verkauft, alle populären Ideen als die eigenen.
Natürlich gibt es Politiker, welche die EU als Sündenbock benutzen, wenn sie unter Druck geraten oder versagen. Das bedeutet aber nicht, dass es dennoch berechtigte Kritik an der EU gibt. In Grossbritannien müssen die Politiker nun wieder Verantwortung übernehmen für ihre Entscheide. Sie können dafür nicht mehr der EU die Schuld in die Schuhe schieben. Und das ist doch gut so, denn Handeln muss Folgen haben. Selbstbestimmung bedingt Eigenverantwortung, ein zutiefst liberales Postulat.
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