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Interview

Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff: «Es gibt keine Friedensdividende mehr»

Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff ordnet die Folgen des Ukraine-Kriegs für die Wirtschaft ein: Energiepreisschock, Wachstumsschwäche, Unsicherheit.

JENS MÜNCHRATH

Jens Münchrath

Kenneth Rogoff is the Thomas D. Cabot Professor of Public Policy at Harvard University's Department of Economics.

DUNKLE EPOCHE: Der Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff prophezeit wegen des Ukraine-Kriegs eine Zeit der Angst und der Unsicherheit.

M. Scott Brauer

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Kenneth Rogoff hat ein emotionales Verhältnis zur Ukraine – und das liegt nicht nur an den verstörenden Bildern, die die Weltöffentlichkeit fast täglich sehen muss. Bilder von unschuldigen Zivilisten, getötet von russischen Soldaten in einem absurden Krieg. Der Harvard-Ökonom hat auch enge familiäre Beziehungen in die Ukraine. «Mein Grossvater stammt aus Kiew. Er lebte davon, Ziegenmilch ausserhalb der Grossstadt zu verkaufen», sagt der 68-Jährige. Ob ich Kinder hätte, fragt der Familienvater den Interviewer. «Wenn meine Kinder jetzt in Mitteleuropa lebten, wären sie sehr verängstigt», sagt Rogoff: «Der Krieg ist nah dort.»

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Herr Rogoff, die Folgen der Pandemie sind noch nicht überwunden, nun droht mit der Eskalation des Ukraine-Konflikts gleich der nächste grosse Rückschlag. Was bedeutet das für die Weltwirtschaft?
Wie und wann auch immer dieser furchtbare Krieg endet, wir werden einen kräftigen und nachhaltigen Anstieg der Energiepreise erleben und eine empfindliche Schwächung des Wachstums sehen. Die Inflationsraten waren ja schon vor Ausbruch des Konflikts bedenklich hoch. Und auch die Pandemie ist bei Weitem nicht überwunden, obwohl zumindest die ökonomische Erholung im Gange war. Der Krieg und die damit verbundene Unsicherheit gefährden all das wieder.

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Was bedeutet es ökonomisch, wenn sich Krieg in Europa wieder als denkbares Mittel der Politik etabliert?
Das ist eine Zäsur. Alles scheint möglich, bis zu einer nuklearen Auseinandersetzung. Die Angst und die Unsicherheit, die damit verbunden sind, werden auch grosse langfristige Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben. Wir werden einen ökonomischen Eisernen Vorhang haben. Es ist auch ein weiterer Schritt in Richtung Deglobalisierung. Die entscheidende Frage wird sein, wo China sich am Ende positioniert.

Das heisst, die Zeiten, in denen wir von einer Friedensdividende profitierten, sind vorbei?
Eine Friedensdividende gibt es nicht mehr. Vor allem für Europa wird sich Gravierendes ändern. Die USA haben ja immer viel in ihre Rüstung investiert. Aber auch dort sind die Rüstungsausgaben drastisch gesunken. In Zeiten des Vietnam-Kriegs waren es elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Noch zu Zeiten des Mauerfalls waren es knapp sieben Prozent. Heute sind es 3,5 Prozent. Die westliche Welt muss in der Lage sein, sich auch militärisch zu verteidigen. Das wird vor allem für Europa teuer.

Der Grossmeister

Seit 1999 ist Kenneth Rogoff Professor für Ökonomie in Harvard. Der 68-Jährige studierte und lehrte am Massachusetts Institute of Technology (MIT), in Berkeley, Princeton und Harvard. Von 2001 bis 2003 war der Schachgrossmeister IWF-Chefökonom. Für Aufsehen sorgte sein gemeinsam mit Carmen Reinhart veröffentlichtes Werk «This Time Is Different». Darin untersuchen die beiden US-Amerikaner 800 Jahre Finanzkrisen-Geschichte.

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Bereits vor dem Krieg haben wir eine Rückkehr der Inflation erlebt. Der Krieg beschleunigt diese Entwicklung. Ist die langjährige Ära niedriger Inflationsraten vorbei?
Sie wird in jedem Fall für die kommenden Jahre vorbei sein. Energiesicherheit ist auf einmal das grosse Thema, und das bei ökologischer Nachhaltigkeit – das wird teuer. Hinzu kommen die Kosten der neuen Sicherheitspolitik. Wir stehen vor einer völlig neuen Lage. Die Folgen sind noch gar nicht abschätzbar.

Sie glauben nicht, dass die Notenbanken rechtzeitig reagieren?
Schon vor diesem Krieg war aus meiner Sicht die Bereitschaft der Zentralbanken, gegen die rapide steigenden Inflationsraten vorzugehen, nicht da. Sie reagierten viel zu spät und machten zu wenig. Selbst in den USA, wo die Überhitzung der Wirtschaft offensichtlich war. Jetzt, da der Krieg die Unsicherheit schürt, haben die Zentralbanker erneut Grund zu zögern. Ich gehe davon aus, dass der Leitzins in den USA auf zwei Prozent in zwei Jahren steigen wird. Und das wird nicht reichen, um die Inflation zu bekämpfen. Die Angst davor, eine Rezession zu verantworten, ist sehr gross unter den Notenbankern. Die Inflation wird auch 2023 weit jenseits der vier Prozent liegen, und das ist angesichts der aktuellen Lage konservativ geschätzt.

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Droht eine Stagflation wie in den 70ern?
Noch sind wir nicht in den 1970er Jahren, aber der stagflationäre Impuls ist da. Die Inflationsentwicklung ist nachhaltig. Sollte es wegen der aktuellen Krise noch einen Wachstumsschock geben, sind wir sehr schnell in einer Situation, die vergleichbar ist mit der ökonomischen Entwicklung während der Ölkrise.

Wie schätzen Sie die Lage in Europa ein?
Hier ist die Lage noch komplizierter. Wie in den USA werden auch in Europa die Preise weiter steigen, wenn auch in geringerem Umfang als in den USA. Aber bis es zu einer echten Stagflation kommt, müsste sich die Lage weiter verschlechtern, etwa durch verschärfte Spannungen zwischen Russland und der NATO.

Schon die Pandemie hat die Schulden dramatisch erhöht, jetzt kommt in vielen europäischen Staaten auch noch eine massive Anhebung der Verteidigungsetats. Sehen Sie da ein grosses Risiko?
Für Länder wie die Schweiz oder Deutschland sehe ich das nicht. Dank der klugen Politik der vergangenen Jahre gibt es ausreichend fiskalischen Spielraum. Ganz Europa wird jetzt davon profitieren. Ganz anders ist die Lage in Staaten wie Frankreich und Italien. Hinzu kommt: Nicht nur die eigene Verteidigungsfähigkeit, die Europa jetzt entschlossen aufbauen will, sondern auch die Energiesicherheit hat einen hohen Preis. Die USA sind da in einer sehr viel komfortableren Lage.

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Steht die EZB vor der Entscheidung, ob sie die Inflation entschlossen bekämpft oder den Euro retten will?
Genau das wird die entscheidende Frage sein. Und ich denke, die EZB wird sich für die Rettung des Euros entscheiden. Da gibt es gar keine Zweifel. Die Schulden in Südeuropa sind bedrohlich hoch.

Foto: M. Scott Brauer

Solange die langfristigen Kapitalmarktzinsen niedrig bleiben, scheinen die Schulden tragbar zu sein, auch die Vereinigten Staaten sind mit 130 Prozent des BIP verschuldet.
Es gibt einen grossen Unterschied zwischen einem Krieg und einer Finanzkrise oder einer Pandemie, wenn man die ökonomischen Folgen betrachtet. Während die Kapitalmarktzinsen bei Kriegen oft steigen, sinken sie tendenziell in Finanzkrisen oder Pandemien. Die zuletzt immer wieder geäusserte Meinung von Ökonomen, Staatsverschuldung sei kein Problem, wird als Illusion entlarvt. Wir erleben einen Weckruf: Die Idee, dass die Zinsen immer so niedrig bleiben würden und dass die Staatsverschuldung ein Problem von gestern sei, war immer schon falsch.

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So schnelle, umfassende Sanktionen hat es noch nie gegeben. Was bedeutet das für eine Volkswirtschaft wie die russische?
Der Westen hat deutlich kraftvoller reagiert, als zu erwarten war, und er fügt der russischen Volkswirtschaft ohne Zweifel grossen Schaden zu – auch wenn Russland sich seit Jahren auf mögliche Sanktionen vorbereitet hat, indem es im grossen Stil Gold und Devisenreserven anhäufte. Doch der Schaden ist offenbar bislang nicht so gross, dass Wladimir Putin diesen irrsinnigen Krieg aufgeben würde.

Jetzt boykottieren die USA und Grossbritannien russische Ölimporte – ein guter Schritt?
Weder die USA noch Grossbritannien sind im Vergleich zu Europa ein grosser Abnehmer russischer Ölprodukte, daher ist der Boykott eher symbolisch. Doch Putin wird das irritieren, und er wird die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass noch mehr kommt. Denn auch wenn die gesamte Volkswirtschaft schon leidet, die Regierung hat ihre Einnahmequellen und kann ihre Soldaten bezahlen.

Das heisst, die Sanktionen reichen nicht?
Dass der Westen die Devisenreserven der Zentralbank einfriert, wird Putins Leute geschockt haben. Bei den Sanktionen 2014 nach der Annexion der Krim hat der Rubel ähnlich an Wert verloren wie heute, 30 Prozent. Dennoch ist der wirtschaftliche Schaden heute viel grösser. 2014 ist der Ölpreis kollabiert, heute steigt er. Das müsste den Kurs des Rubels eigentlich stützen. Dass er trotzdem so massiv an Wert verloren hat, zeigt, dass die Sanktionen wirken. Ich rechne mit einer Inflation von bis zu 20 Prozent und einer schweren Rezession in Russland. Das werden die Menschen in Russland registrieren – ganz gleich, welcher Gehirnwäsche sie unterworfen sind.

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Es könnte also eine Revolte von innen geben?
Ein Regime mit Hilfe von Sanktionen zu stürzen, ist dem Westen nie gelungen – nicht in Nordkorea, nicht in Kuba, Venezuela oder im Iran. Und die Tatsache, dass Russland eine Atommacht ist, macht die Sache unendlich komplizierter.

««Die Inflation in den USA wird auch 2023 weit jenseits der vier Prozent liegen, und das ist angesichts der aktuellen Lage konservativ geschätzt.»»

Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff

Wenn man den Konflikt spieltheoretisch betrachtet: Ist es klug, Putin so in die Enge zu treiben, dass er nichts mehr zu verlieren hat?
Diese Gefahr besteht. Ich bin aber sicher, dass die westlichen Krisenmanager bemüht sind, Putin eine Möglichkeit zum Rückzug zu lassen. Der Westen könnte Russland noch wesentlich mehr schaden, wenn er wollte, indem er zum Beispiel die Energieimporte stoppt. Die westlichen Länder stehen vor einem schwierigen Balanceakt. Sie wollen, dass ihre Sanktionen Putin wehtun. Aber zugleich müssen sie berücksichtigen, dass sie es mit einer Atommacht zu tun haben, die bereit ist, militärische Gewalt skrupellos zu eskalieren.

Könnten die Sanktionen nicht dazu führen, dass autokratische Systeme sich von westlichen Kapitalmärkten fernhalten werden, vielleicht mehr, als dem Westen lieb ist?
Das könnte eine langfristige Folge sein. Das Zahlungsverkehrssystem Swift zu ersetzen, ist zwar teuer, aber machbar. Das Einfrieren der Notenbankreserven hat eine völlig neue Qualität. Darauf war Russland nicht vorbereitet. Russland hat jetzt allein wegen der Sanktionen einen Status an den Weltfinanzmärkten, der einer Zahlungsunfähigkeit entspricht: Andere Länder werden das sehr aufmerksam beobachten.

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China zum Beispiel.
Ganz sicher. Und sicher wird China spätestens jetzt alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um sich unabhängiger vom westlichen Finanzsystem zu machen.

Wie soll das funktionieren? Ist es überhaupt möglich, Vermögenswerte in Höhe von drei Billionen Dollar ausserhalb des westlichen Finanzsystems zu parken?
Nein, das ist es eben nicht. Die Volksrepublik könnte ja erwägen, ihre gigantischen Reserven in Kryptowährungen zu investieren. Viel Glück wünsche ich dabei. Spass beiseite: Die Risiken, die damit verbunden sind, kennen wir alle. Das Dollar-System zu umgehen, wird immer schwieriger. Die Unsicherheiten der vergangenen 15 Jahre haben dazu geführt, die Dollar-Dominanz zu stärken. Welche Kennziffer man auch heranzieht: Der Greenback ist heute dominanter als noch in den 1950er Jahren. Vielleicht aber dienen diese historischen Sanktionen jetzt als Weckruf für autoritäre Regimes, entschieden den Versuch zu unternehmen, endgültig mit der Dollar-Dominanz zu brechen. In 25 Jahren wird man vielleicht sagen, die umfassenden Russland-Sanktionen waren der Wendepunkt.

Kenneth Rogoff is the Thomas D. Cabot Professor of Public Policy at Harvard University's Department of Economics. He is seen here in his office at Harvard in Cambridge, Massachusetts, USA

CHINESISCHE BEDROHUNG «Niemand glaubt, dass irgendjemand Peking stoppen kann, wenn das Land wirklich mit der Invasion Taiwans beginnt.»

M. Scott Brauer
Kenneth Rogoff is the Thomas D. Cabot Professor of Public Policy at Harvard University's Department of Economics. He is seen here in his office at Harvard in Cambridge, Massachusetts, USA

CHINESISCHE BEDROHUNG «Niemand glaubt, dass irgendjemand Peking stoppen kann, wenn das Land wirklich mit der Invasion Taiwans beginnt.»

M. Scott Brauer

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Glauben Sie, die jetzigen Sanktionen und ihre Folgen beeindrucken auch Peking, sodass sich die Regierung dort in ihrer Taiwan-Politik mässigen wird, weil sie ihre gigantischen Währungsreserven gefährdet sieht?
Niemand glaubt, dass irgendjemand Peking stoppen kann, wenn das Land wirklich mit der Invasion Taiwans beginnt. Und niemand glaubt, dass es möglich ist, China so wie Russland von der Weltwirtschaft abzuschneiden. Dazu ist das Land ökonomisch viel zu wichtig und zu mächtig. Aber immerhin: China sieht jetzt, dass es trotz militärischer Übermacht alles andere als einfach ist, ein Land zu erobern. Und es sieht, wie geschlossen der Westen agiert.

Liegt es langfristig im wirtschaftlichen und politischen Interesse Chinas, Putins Krieg zu unterstützen?
Ich denke, China wird Russland unterstützen, sich aber sehr gut überlegen, wie weit es geht. Es wird eher auf ein Modell Nordkorea hinauslaufen. Gerade so viel, dass der Westen keinen Regime-Change durchsetzen kann.

Wie sollte der Westen auf Pekings Unterstützung von Moskau reagieren?
Der Westen sollte der Volksrepublik klarmachen, dass er sie für einen wichtigen Wirtschaftspartner hält, aber dass sie auch Verantwortung für den Weltfrieden trägt.

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US-Präsident Joe Biden sagt voraus, Putins Krieg werde die Autokratien schwächen und die Demokratien stärken. Glauben Sie daran?
Ich hoffe, er liegt richtig. Aus jetziger Sicht wirkt das wie Wunschdenken. Sollte Putin aber scheitern mit seiner imperialistischen Politik, könnte das eine nachhaltige Wirkung entfalten, vergleichbar mit der demokratischen Euphorie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Noch bin ich skeptisch: Das grösste Risiko aus Sicht des Westens ist die wachsende Macht autokratischer Systeme, ihre Völker mit digitalen Überwachungsmöglichkeiten unter Kontrolle zu halten.

Die noch nicht überwundenen Folgen der Pandemie, eine drohende Eskalation eines Krieges in Europa: Was wäre geschehen, wenn Donald Trump noch im Weissen Haus sässe?
Die jüngsten Äusserungen Trumps, in denen er den Eroberer und Kriegsverbrecher Putin pries, zeigen die ganze Absurdität dieses Mannes. Es ist so abwegig, dass man es sich nicht ausmalen mag, was geschehen wäre, hätte Trump als Präsident diese epochale Krise managen müssen.

Es gibt viele, die ihm für die Wahlen 2024 Chancen ausrechnen. Wird er wieder gewählt?
Nicht mit meiner Stimme jedenfalls. Die Republikaner und ihre Anhänger wirken manchmal, als hätten sie sich einer Gehirnwäsche unterzogen. Viele schauen nur Fox TV. Ich schliesse da nichts aus. Ich denke aber, dass die Gefahr, der wir uns jetzt durch Putin ausgesetzt sehen, die Lust auf Experimente und Protestwahlen mindert. Sollte Putin stürzen und eine demokratiefreundliche Regierung in Moskau übernehmen, wäre das vielleicht noch mal ein Moment wie nach dem Fall der Mauer. Doch das ist eine sehr optimistische Sicht. Tatsächlich muss sich der Westen bewusst machen, dass die Idee der liberalen Demokratie in Bedrängnis ist.

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