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Der Hype um Nachhaltigkeit hat die Finanzindustrie voll erfasst. Die rasante Vergrünung sorgt für Kritik und Konfusion. Die Gegner freuen sich.
In der Europäischen Union war Ende Juni erstmals mehr Geld in Nachhaltigkeits-Fonds angelegt als in herkömmliche Produkte.
Benjamin Güdel für BILANZWerbung
Der Machtwechsel erfolgte still und weitgehend unbemerkt. Laut einer Untersuchung des Fondsanalysehauses Morningstar war in der Europäischen Union Ende Juni mit 4180 Milliarden Euro erstmals mehr Geld in Fonds angelegt, die ESG und Nachhaltigkeit in ihren Anlageprozess integrieren, als in herkömmliche Produkte. Allein im zweiten Quartal wurden in der EU 183 als nachhaltig ausgewiesene Anlagefonds auf den Markt gebracht. 669 bereits bestehende Fonds wurden neu als grün beworben.
«In allen Bereichen der Investmentbranche wird über Nachhaltigkeit gesprochen», sagt Rachel Whittaker, Head of SI Research bei Robeco. Waren es bisher vor allem Aktienfonds, die auf Nachhaltigkeit setzten, breitet sich nun der Ansatz auf Anleihen und Privatmarktanlagen aus – in jüngster Zeit wird gar über nachhaltige Hedgefonds und grüne Rohstofffonds nachgedacht.
ESG-Ansätze haben sich nach einem jahrelangen Boom an den Finanzmärkten endgültig durchgesetzt. Kaum ein Asset Manager, der sich nicht seiner ESG-Kompetenz rühmt und zahlreiche «grüne» Produkte ins Schaufenster stellt. ESG (Environment, Social, Governance), früher noch erklärungsbedürftig, ist in der Finanzindustrie mittlerweile Standard.
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«Es ist ein Hype, mit all seinen Vor- und Nachteilen», sagt Reto Ringger, Gründer und CEO der auf nachhaltige Anlagen spezialisierten Globalance Bank. 1995 hatte er ein vor Jahren an Robeco verkauftes Start-up namens SAM gegründet, das sich damals noch mehr oder weniger im Alleingang auf nachhaltige Anlagen fokussierte. «Natürlich viel zu früh», wie er heute sagt.
RETO RINGGER, CEO GLOBALANCE «Auf Firmenebene sagen ESG-Ratings nichts darüber aus, wie nachhaltig ein Unternehmen ist.»
PDRETO RINGGER, CEO GLOBALANCE «Auf Firmenebene sagen ESG-Ratings nichts darüber aus, wie nachhaltig ein Unternehmen ist.»
PDRingger war in der ersten ESG-Welle dabei, mit der die Nachhaltigkeit um die Jahrtausendwende erstmals in die Finanzindustrie schwappte. Es war die Zeit der Themenfonds. Produkte von SAM und die auf Wasser fokussierten Fonds von Pictet wurden in dieser Phase gross. Dann war es viele Jahre ruhig. Mit den Sorgen um die Auswirkungen des Klimawandels stieg das Interesse an nachhaltigen Anlagen aber sprunghaft an. In Frankreich oder Holland gab es erste Vorgaben an die Pensionskassen.
In den letzten drei, vier Jahren ging es mit ESG-Anlagen dann so richtig los – «von null auf hundert», wie Ringger sagt. Den Regierungen wurde bewusst, dass sie dem Klimawandel ohne eine enge Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft nicht beikommen würden. Die Finanzindustrie wird nun instrumentalisiert und dazu gedrängt, nachhaltige Angebote auf den Markt zu bringen.
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Seit dem 2. August dieses Jahres müssen Vermögensverwalter laut der europäischen Finanzmarktrichtlinie MiFID II die ESG-Präferenzen der Kunden erfragen und passende Produkte anbieten. In Form einer Richtlinie der Schweizerischen Bankiervereinigung gibt es für die 260 Mitgliedsinstitute, darunter UBS und CS, ab 2024 eine ähnliche, aber etwas pragmatischere Schweizer Regelung. Auch hierzulande ist das Thema gross. Für die Schweiz weist die Fondsplattform Swissfund Data von insgesamt 8873 verfügbaren Fonds 1820 als Sustainable Investments, also nachhaltige Anlagen, aus.
«Geht es um Compliance, werden die Banken hellhörig und aktiv. Compliance ist ein Haupttreiber der ESG-Entwicklung», sagt Reto Ringger. Die Marketingabteilungen haben ESG und Nachhaltigkeit rasch als Wachstumstreiber erkannt und in der Vermarktung entsprechend vorangetrieben. So schnell, dass die Einheiten, welche die entsprechenden Produkte bauen, nicht mithalten können. «Die Industrie läuft auf Hochtouren. Manchmal hat man das Gefühl, dass sie zu rennen versucht, bevor sie gehen gelernt hat», sagt Cecile Biccari von der auf Sustainable Finance fokussierten Contrast Capital.
Biccari befindet sich in der Assessment-Kommission der UN Principles for Responsible Investment (UN PRI), der grössten, freiwilligen Initiative in der Finanzindustrie, um Nachhaltigkeit in die Anlage zu bringen. Die Teilnehmer verantworten die Hälfte der institutionell verwalteten Fonds.
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CECILE BICCARI, CONTRAST CAPITAL «Manchmal hat man das Gefühl, dass die Anlageindustrie zu rennen versucht, bevor sie gehen gelernt hat.»
PD
CECILE BICCARI, CONTRAST CAPITAL «Manchmal hat man das Gefühl, dass die Anlageindustrie zu rennen versucht, bevor sie gehen gelernt hat.»
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Der Wille und das Können driften im Hype zuweilen auseinander. «Wird Nachhaltigkeit in einem renditeoptimierten, diversifizierten Portfolio umgesetzt, werden Klimascores oder Biodiversität berücksichtigt, ist das gerade für neue Player auf Stimdiesem Anlagegebiet eine sehr komplexe Aufgabe», sagt Reto Ringger.
Auch fehle häufig das Personal. ESG-Spezialisten sind extrem gesucht. Ringger zieht den Vergleich zur Autoindustrie, die plötzlich elektrische Antriebe bauen muss: Hatten die Mitarbeiter dort Benzin im Blut, sind nun ganz andere Kompetenzen gefragt. Nach und nach bildet man auch in der auf Profit fokussierten Finanzwirtschaft Menschen in Sachen Nachhaltigkeit aus. Der Titel «CFA in ESG Investing» ist ein Beispiel.
«Das Asset Management zu vergrünen, ist ein sehr ambitionierter Plan. Der lässt sich nicht über Nacht umsetzen. Man richtet die Dinge nach und nach. Bis alles reibungslos läuft, dauert das schon ein paar Jahre», sagt Hortense Bioy, als Head of Sustainability Research von Morningstar eine gefragte Expertin.
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Reto Ringger erklärt die Entwicklung der Nachhaltigkeit in der Finanzindustrie mit dem Konzept der Problemlösung der vier mentalen Räume. Nach dem Raum der Verleugnung, der auf den ersten Raum der allgemeinen Zufriedenheit folgte, befinde man sich derzeit im dritten Raum, jenem der Konfusion. Das Problem sei erkannt, aber man wisse nicht genau, wie wir es lösen können. «Es gibt eine Kakofonie von Meinungen und Stimdiesem men.
Der Regulator sagt: ‹Wir müssen links abbiegen›, der Kunde möchte nach rechts, die Vermögensverwalter sind stark gefordert. Eine Vielzahl von Stakeholdern auf dem Gebiet macht es extrem komplex», sagt Ringger.
Der Zustand der Konfusion bleibt laut dem Globalance-Chef in den nächsten paar Jahren erhalten. Der Markt befinde sich nach wie vor in einer «Cowboy-Phase», in der jeder machen könne, was er wolle. Bisher konnte der Begriff der Nachhaltigkeit auch frei verwendet werden. «Da hat niemand richtig hingeschaut», so Ringger. Doch das ändere sich nun Schritt für Schritt.
«Wir sprechen in der Industrie nicht die gleiche Sprache. ESG, Responsible Investing, nachhaltige Investments, ethische Investments: Für die meisten Begriffe fehlt eine formale Definition, sie sind dadurch austauschbar und werden nach Gutdünken verwendet», sagt Hortense Bioy. In der Schweiz wird der Grad der Nachhaltigkeit von der einen Bank mit Eisbären, von der zweiten mit Bäumen und von der dritten mit Globen illustriert.
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«Jeder macht es anders, das ist für den Anleger sehr verwirrend», sagt Ringger. Um Vergleichbarkeit und Transparenz zu erhöhen, lancierte der Bund Ende Juni 2022 mit den Swiss Climate Scores als erstes Land der Welt ein Gütesiegel für grüne Anlagen. Dieses Transparenzlabel fokussiert aufs Klima. Da die Anwendung freiwillig ist, sind keine formalen Kontrollen vorgesehen.
HORTENSE BIOY, MORNINGSTAR «Man richtet die Dinge nach und nach. Bis alles reibungslos läuft, dauert das schon ein paar Jahre.»
PD
HORTENSE BIOY, MORNINGSTAR «Man richtet die Dinge nach und nach. Bis alles reibungslos läuft, dauert das schon ein paar Jahre.»
PD
In der EU schreitet zunehmend der Regulator ein. Europa hat sich mit dem Aktionsplan für nachhaltiges Finanzwesen einiges vorgenommen. Mit der «EU Taxonomy» soll ein Klassifizierungssystem für nachhaltige Aktivitäten geschaffen werden. Sustainable Finance Disclosure Regulation (SFDR) zielt auf Transparenz bei Fondsprodukten. MiFID II bezieht Nachhaltigkeit in die Anlageberatung ein. «Die nächsten Jahre werden spannend», prognostiziert Robeco-Expertin Rachel Whittaker.
So beginnt sich eine gewaltige Datenlawine in Bewegung zu setzen. 2023 müssen die Asset Manager erstmals über die negativen Auswirkungen ihrer Investitionen aus dem Vorjahr berichten. In den kommenden Jahren gibt es einen grossen Schub an Offenlegungen, die Details der nachhaltigen Strategien ans Licht bringen werden. Laut Stephanie Maier, Global Head of Sustainable and Impact Investment bei GAM, ist Offenlegung jedoch nicht mit Verständnis gleichzusetzen. «Die grosse Herausforderung ist es, die vielen Daten auch verstehbar zu machen.»
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Die Offenlegungsverordnung SFDR scheucht die in Europa aktiven Fondsmanager auf. Sie müssen ihre Produkte entsprechend ihrer Nachhaltigkeitsziele einteilen. Artikel 6 sind die «normalen» Fonds, Artikel 8 und 9 sind «grün». Dabei berücksichtigen die «hellgrünen» Artikel-8-Fonds lediglich ESG-Kriterien, während die dunkelgrünen Artikel-9-Fonds konkrete Nachhaltigkeitsziele verfolgen.
Massenhaft versuchen sich Fonds nun als grün zu positionieren. Allein im zweiten Quartal änderten in der EU 713 Fonds ihren Status, in 653 Fällen von normal auf hellgrün. Prominentes Beispiel ist der Flossbach von Storch SICAV Multiple Opportunities der von Artikel 6 auf 8 wechselte und unter den hellgrünen Fonds mit Anlagen von 24 Milliarden Euro Europas Nummer eins ist.
Die Flut an grünen Fonds sorgt für Skepsis – nicht zuletzt deshalb, weil die Anbieter ihre Produkte selbst einstufen und noch keine externe Kontrolle stattfindet. Die Angst vor Greenwashing wächst. Laut der «Schroders Institutional Investor Study 2022» sehen in der Schweiz 75 Prozent der Profianleger Greenwashing als das grösste Problem von nachhaltigen Anlagen.
«Greenwashing betrifft nicht nur das Asset Management, sondern ist in der gesamten Wirtschaft verbreitet», sagt Rachel Whittaker. Man sehe es beispielsweise bei Lebensmitteln, da gebe es zahllose «nachhaltige» Produkte, die es bei näherer Betrachtung nur teilweise seien. «Es ist ein Teil der Vermarktung. Es ist momentan unmöglich zu sagen, wie gross das Problem des Greenwashings in der Finanzindustrie ist», so Whittaker.
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Das Fondsanalysehaus Morningstar hat unter Federführung von Hortense Bioy den selbst als grün definierten Teil der europäischen Fondslandschaft nach seiner «Nachhaltigkeit» untersucht. So haben 27 Prozent der Artikel-8- und 14 Prozent der Artikel-9-Fonds Aktien von Herstellern kontroverser Waffen im Depot. 78 Prozent der Artikel-8- und 76 Prozent der Artikel- 9-Fonds investieren in Produzenten fossiler Brennstoffe.
Bioy hat sich auch eine der CO2-schädlichsten Industrien überhaupt angeschaut, die Herstellung von Kohle. Dort zeigt sich, dass 39 Prozent der Artikel-8- und 33 Prozent der Artikel-9-Fonds in Firmen investieren, die zumindest einen Teil der Umsätze mit dem Verkauf von Kohle machen.
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Das überrascht, da gerade Artikel-9-Fonds dem «Do No Significant Harm»-(DNSH-)Prinzip der EU-Taxonomie unterstehen, also einen starken ESG-Beitrag leisten, ohne Schaden anzurichten. «Artikel-8-Fonds sind keine nachhaltigen Investments wie von SFDR definiert. Während manche Fonds einen Teil in nachhaltige Anlagen investieren, hat über ein Drittel der Fonds dort null Exposure», sagt Hortense Bioy. Selbst von den «dunkelgrünen» Artikel-9-Fonds gebe es nur wenige «Pure Plays». Morningstar hat nur zwölf Artikel-9-Fonds gefunden, die zu 100 Prozent in nachhaltige Anlagen investieren.
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Laut Bioy müsse sich der Regulator fragen, ob das so beabsichtigt gewesen sei und die Kategorisierung Sinn mache. Der Markt reagiert bereits. Sogenannte Artikel-8-plus-Fonds mit einem klareren Fokus auf Nachhaltigkeit breiten sich aus. «Die Kategorisierungen werden mit den Jahren besser. Irgendwo muss man anfangen, sonst verharrt das System in Faulheit. Nochmals verschlafen dürfen wir die Nachhaltigkeit nicht», sagt Marc Possa. Der Fondsmanager sitzt im Anlageausschuss der nachhaltigen Pensionskasse Stifung Abendrot.
Eine Erklärung für die Existenz von gar nicht grünen Anlagen in ESG-Fonds liefert ein verbreitetes Missverständnis. So bringt die Integration von ESG-Daten nicht automatisch nachhaltige Anlagen hervor. Die ESG-Risiko-Ratings von Sustainalytics etwa messen das Ausmass der nicht gemanagten ESG-Risiken eines Unternehmens.
«Auf Firmenebene sagen ESG-Ratings nichts darüber aus, wie nachhaltig ein Unternehmen ist, sondern wie es finanzielle Risiken etwa in Bezug aufs Klima managt», sagt Reto Ringger. So kann etwa ein Minenkonzern, der das Risiko klimabedingter Überschwemmungen in die Standortplanung einbezieht, ein ziemlich gutes ESG-Rating aufweisen, sofern die Governance stimmt und Mitarbeitende fair behandelt werden. Tabak- und Ölkonzerne mit Top-ESG-Ratings sind keine Seltenheit. So rühmt sich der britische Tabakkonzern BAT, das dritthöchste ESGRating im FTSE 100 erhalten zu haben.
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ESG ist mittlerweile vor allem ein guter Indikator, ob eine Firma ihr Risikomanagement im Griff hat – für Fondsmananager also ein neues Analysetool hinsichtlich des Risikomanagements. Häufig werden ESG-Risiken wie Kreditrisiken betrachtet, die den langfristigen Bestand eines Unternehmens beeinflussen.
Auf den ersten Blick problematisch ist die geringe Korrelation zwischen den ESG-Ratings verschiedener Anbieter. Das hat zuletzt wieder eine Untersuchung des Beratungsunternehmens Cofinpro gezeigt: Die Bewertungen der Nachhaltigkeit von Unternehmen durch Ratingagenturen besässen keine gemeinsame Basis und seien nicht miteinander vergleichbar. Zwei praktisch identische ESG-Fonds, die unterschiedliche ESG-Datenanbieter nutzen, können folglich völlig unterschiedliche und gar widersprüchliche Anlagen haben.
Paradebeispiel ist Tesla. «Sie können dieses Unternehmen aus der ESG-Perspektive lieben oder meiden wie die Pest. Das hängt davon ab, welchen Ratinganbieter Sie fragen», meint Duncan Lamont von Schroders. «Alle Ratings haben Limits», weiss auch Stephanie Maier von GAM. Beide verwenden Ratings kritisch und nur wo nötig.
Gemäss Rachel Whittaker von Robeco setzen Ratingagenturen unterschiedliche Schwerpunkte und wenden unterschiedlichen Methoden an. Der Investor bekomme je nach Anbieter andere Blickwinkel auf eine Firma, die man interpretieren und so nutzen könne. «Verschiedene Ratings sind dann ein Problem, wenn man nicht versteht, wie geratet wird», sagt sie. Auch bei traditionellen Aktienanalysen verwende man nicht nur eine Sichtweise oder lediglich eine Kennzahl, beispielsweise das Kurs-Gewinn-Verhältnis.
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Experten von Wirtschaftsprüfer PwC analysieren die Chancen und Gefahren von nachhaltigen Finanzprodukten und aktuelle Entwicklungen im ESG-Bereich. Weiterlesen.
Noch ungelöst ist das Problem, dass die Offenlegung der Nachhaltigkeitsdaten vom Regulator gefordert wird, bevor diese überhaupt verfügbar sind. «Die Daten der Firmen kommen nicht vor 2024» sagt Hortense Bioy. Heute herrsche Unklarheit darüber, was ein nachhaltiges Unternehmen überhaupt ausmache, ob 100 Prozent der Einnahmen aus nachhaltigen Geschäften stammen müssen oder deutlich weniger. «Es gibt viel Verwirrung. Jeder hat eine andere Interpretation von SFDR sowie verschiedene Daten und Methoden, um diese zu kalkulieren, da gibt es viele Variablen», sagt Hortense Bioy.
Man wird sehen, wie die grossen Unternehmen auf die Regulierung reagieren. «Niemand weiss wirklich, wie die Kennzeichnung funktionieren wird, es gibt immer noch Änderungen. Auf die ökologischen folgen die sozialen Aspekte, wir haben eine Menge Arbeit vor uns», sagt Robeco-Expertin Rachel Whittaker.
Kritisiert wird, dass bei ESG-Ansätzen ein zu grosser Fokus auf das E, also die Umwelt, gelegt werde. Laut Whittaker gibt es beim E einfach mehr Daten und einen globalen Konsens, den CO2-Ausstoss oder die Wasserverschmutzung zu reduzieren. Zudem seien die Kostenvorteile des Umweltschutzes für Unternehmen einfacher zu beziffern. Was soziale Standards, das S, betreffe, gebe es weder einen globalen Konsens, noch sehen die Firmen quantifizierbare Vorteile. Das G in ESG, sei mit dem hohen Stellenwert der Governance in der Aktienanalyse seit den 2000er Jahren «gut vertreten».
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Die Konfusion in Teilen der Nachhaltigkeit spielt den Gegnern in die Hände. Einer davon ist der ehemalige Biotech-Unternehmer Vivek Ramaswamy. Dessen Vermögensverwalter Strive Asset Management brachte einen ETF auf den Markt, der bewusst auf ESG- und Nachhaltigkeitsziele verzichtet. Das Produkt investiert in US-Ölkonzerne und trägt den bezeichnenden Namen DRLL. Das politisch unkorrekte Produkt ist alles andere als ein Ladenhüter, sondern in den USA in diesem Jahr die ETF-Neuemission mit den höchsten Zuflüssen.
Für Vermögensverwalter wie Strive gibt es mit «Anti-Woke-Asset-Manager» bereits einen Begriff. Woke oder Wokeness wird als gesteigerte Form der Political Correctness definiert. Dass eine Anti-Wokeness-Universität genau in Texas entsteht, macht Sinn, denn im Herzen der US-Ölindustrie hat man für ESG und Nachhaltigkeit wenig übrig.
Texas drohte damit, die Produkte von Vermögensverwaltern, die sich stark auf Nachhaltigkeit fokussieren und nicht mehr in Ölkonzerne investieren, aus den Portfolios der Pensionskassen zu eliminieren. Bei Blackrock hat die Drohung gewirkt: Brüstete sich CEO Larry Fink damit, fossile Brennstoffe aus neuen Anlageprodukten zu verbannen, schlug er zuletzt wieder versöhnlichere Töne an.
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Der Vergrünung der Finanzwirtschaft nicht gerade förderlich ist das Geschehen an den Aktienmärkten. Dort sind in diesem Jahr so gar nicht grüne Anlagen aus der Ölindustrie gefragt. Der MSCI Energy legte auf Jahressicht 36 Prozent zu, während der MSCI ESG Leaders 18 Prozent einbüsste. Auch Rüstungsaktien hielten sich weit besser als der Markt.
Über Jahre wurde der Investment Case für nachhaltige Anlagen auch über die Rendite gemacht. Im laufenden Jahr wird die grüne Überzeugung jedoch auf die Probe gestellt. In der Schweiz sorgen sich laut der «Schroders Institutional Investor Study 2022» 43 Prozent der Befragten um die Performance von nachhaltigen Anlagen. Jetzt kommen Diskussionen auf, ob selbst Waffenhersteller nachhaltig seien. «Ungeachtet aller weltpolitischen Ereignisse sollten wir nicht in die Versuchung kommen, das Narrativ darüber zu verdrehen, was als nachhaltig gilt und was nicht», sagt Candriam-Experte Wim Van Hyfte.
Energiewerte hängen ESG-Musterschüler an der Börse in diesem Jahr deutlich ab.
Auf der anderen Seite wird darüber diskutiert, ob Microsoft als Waffenhersteller einzustufen sei, da immer mehr Waffen digital gesteuert würden und der Softwarekonzern Aufträge aus dem Pentagon erhalte.
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«Wenn wir die Nachhaltigkeits-Box öffnen, kommen überall Würmer raus, die wir noch nicht kennen», sagt Reto Ringger. Die Menschheit an sich agiere nicht nachhaltig, «ein guter Mittelweg» müsse gefunden werden. Laut Fondsmanager Marc Possa darf man keinen exklusiven Ansatz fahren und die Holcims dieser Welt ausschliessen, wenn man die Welt wirklich klimatechnisch verbessern wolle: «Solange es Zement gibt, gibt es solche CO2-Produzenten.»
Da gewissermassen alles auch negative Auswirkungen hat, versucht man zunehmend, den positiven Beitrag einer Firma in Bezug auf die Nachhaltigkeitsziele der UNO, die SDGs, zu messen. Nicht nur wie im klassischen «Impact Investing» für kleinere Firmen und Projekte, sondern für weite Teile des Anlageuniversums.
Geht es nach Cecile Biccari von Contrast Capital, drängt in Sachen Nachhaltigkeit die Zeit: «Rückschläge, die uns um einige Jahre zurückwerfen, können wir uns nicht mehr leisten.»
Besonders beim Klima ticke die Uhr. Laut der UN-PRI-Beraterin bleiben noch sechs bis acht Jahre, bevor die Lage kippe und Klimaziele nicht mehr erreichbar seien. Dann bewege man sich auf gefährlichem Terrain.
Deshalb macht sich Biccari vorerst keine allzu grossen Sorgen wegen Greenwashing. «Wenn Unternehmen kühne Behauptungen aufstellen, legen sie die Messlatte für sich und den Rest der Branche höher. Über die Zeit müssen sie ohnehin beweisen, dass sie es können.»
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