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Mann des Monats Vincent Ducrot

Es geht wieder um Service public: SBB-Chef Ducrot stellt die Weichen neu

Verspätungen, rote Zahlen, Cash-Engpässe: Vincent Ducrot übernimmt die SBB in schwierigen Zeiten. Er soll den Konzern zurück zum Kerngeschäft führen.

Florence Vuichard

Florence Vuichard

Vincent Ducrot SBB

Wir sind Bahn: Vincent Ducrot stellt die Weichen neu.

Keystone

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Ein Stein vom Monte Ceneri, ein anderer aus dem Gotthardmassiv, eine rote Modell-Lokomotive der ÖBB als Andenken an die Fussball-Europameisterschaft 2008 in der Schweiz und Österreich, ein Aschenbecher aus dem Einheitswagen I, der 2005 – bei der Einführung des Rauchverbots in den Zügen – herausmontiert wurde. «Das sind meine Souvenirs», sagt Vincent Ducrot. Geschenke und Erinnerungsstücke, die sich im Lauf seiner Karriere im Dienste des öffentlichen Verkehrs angesammelt haben – und die er nun mitgebracht hat an seinen neuen Arbeitsplatz, ein Sitzungszimmer im siebten Stock des SBB-Hauptsitzes im Berner Wankdorf-Quartier.

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Modelleisenbahnen statt Google-Feeling. Doch der Stabwechsel an der Spitze der SBB von Andreas Meyer zu Vincent Ducrot ist mehr als nur ein Kulturwandel vom schnittigen Manager mit starkem Hang zu Digitalisierungsthemen zum eingefleischten Bähnler, der als Handy-Klingelton «Chi Mai» von Ennio Morricone ausgewählt hat und für den moderne Technik nützlich, aber letztlich nur ein Mittel zum Zweck ist.

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Es ist eine Weichenstellung bei den SBB: Im Zentrum steht jetzt wieder das Kerngeschäft, die Bahn und der Service public. Oder anders gesagt: Es geht bei den SBB jetzt wieder um Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sicherheit statt um Apps und selbstfahrende Autos.

Probleme zuhauf

Ducrot ist kein Visionär, er ist vielmehr der Mann für konkrete Antworten auf konkrete Bedürfnisse und konkrete Probleme. Und von denen gibt es bei den SBB zuhauf: Der Staatskonzern leidet unter zu wenig Rollmaterial, zu wenig gut unterhaltenen Schienen und vor allem unter zu wenig Lokführern. Die Erkenntnis ist nicht neu, doch bis anhin konnten sich die SBB immer irgendwie durchmogeln.

Das Corona-Regime hat die ohnehin angespannte Situation dramatisch verschärft: So wurden aufgrund des Lockdowns die für den laufenden Betrieb notwendigen Lokführer nicht zeitgerecht mit ihrer Aus- und Weiterbildung fertig. «Da gibt es nichts schönzureden, es ist eine Fehlplanung», sagt Ducrot.

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««Ich schäme mich als Bähnler, dass es so weit kommen musste.»»

Vincent Ducrot

Und zwar eine mit Folgen: Die SBB müssen nun vorübergehend rund 200 Zugverbindungen pro Tag streichen. Die SBB sind also derzeit nicht mehr in der Lage, ihren Auftrag zu erfüllen. Der Tiefpunkt in der jüngeren Geschichte der Schweizerischen Bundesbahnen, die ihr Angebot in den letzten Jahren eigentlich immer nur ausgebaut haben. «Ich schäme mich als Bähnler, dass es so weit kommen musste», gesteht Ducrot unumwunden ein.

Besonders stark vom temporären Leistungsabbau betroffen sind die Kantone Aargau, Solothurn und die beiden Basel – sowie die Westschweiz, wo die gestrichenen Verbindungen nicht wie in der Deutschschweiz bereits ab Fahrplanwechsel vom 13. Dezember wieder in Betrieb genommen werden sollen, sondern erst im April 2021.

Lokale und nationale Politiker aus den betroffenen Regionen drohen mit Vorstössen, Klagen und Schadenersatzforderungen, schliesslich müssen sie ihrer Wählerbasis beweisen, dass sie sich für sie einsetzen.

Ducrot reagiert gelassen, er kann es nicht von einem Tag auf den anderen ändern, wie er betont. Lokführer liessen sich nicht aus dem Hut zaubern. Und sie lassen sich auch nicht beliebig auf dem Schweizer Schienennetz einsetzen, denn sie sind meist sehr stark spezialisiert – auf bestimmte Lokomotiv-Typen oder Strecken. «Gegenmassnahmen wurden mittlerweile eingeleitet», sagt Ducrot, «und ein Verbesserungsprogramm ist gestartet.»

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Die vier Gross-Baustellen der SBB

Zürich, Schweiz - 22. Juli 2020: InterCity Doppelstock Zug im Bahnhof Flughafen Zürich (ZRH) in der Schweiz. (KEYSTONE/CHROMORANGE/Markus Mainka)
SCHWEIZ VERKEHR BAHN SBB
Testfahrt eines Schnellzuges mit neuem Assistenzleitsystem fuer Lokfuehrer am Dienstag, den 5. Dezember 2017, auf der SBB-Bahnstrecke zwischen Bern und Olten. (KEYSTONE/Christian Merz)
Reisende liessen nach einer Fahrt mit dem Zug zerbrochene Bierflaschen und Kartonschachteln im Abteil zurueck, aufgenommen am 26. August 2003. (KEYSTONE/Martin Ruetschi) === , === : Film]
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Pannenzug FV-Dosto

Bombardier hat mittlerweile 38 der bestellten 62 Züge ausgeliefert. Ducrot verspricht dank Software-Updates Abhilfe gegen das Schütteln und sonstige Defekte.

Keystone

Wider das Silo-Denken

In seinen ersten sechs Monaten hat Ducrot bei den SBB schon ziemlich viel umgekrempelt. «Ich bin ein Entscheider, das dauert nicht lang.» Denn zufrieden mit dem, was er vorgefunden hatte, war er nicht. Und das nicht nur wegen der fehlenden 200 Lokführer, sondern ganz grundsätzlich: «Das Bahnsystem ist zu wenig robust und am Limit», sagt er. Die SBB verfügten über zu wenig Reservezüge, beim Unterhalt der Flotte sei zu wenig investiert worden. Der Fahrplan sei nicht stabil genug, die Baustellen seien ungenügend koordiniert worden.

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Besonders heftig ist Ducrots Kritik am Silo-Denken innerhalb des Konzerns: Jede Division schaue nur für sich, zu viele Tätigkeiten würden unabhängig voneinander erfolgen. «Das ist die Krankheit der SBB.» Die Folge ist, dass sich Ducrot überall einmischt, wie es heisst.

SBB-interne Kritiker werfen ihm Mikromanagement vor und wollen wissen, dass der Unmut bis nach ganz oben reiche. Ducrot widerspricht: Die Stimmung in der Konzernleitung sei «sehr gut». Sie treffe sich alle zwei Wochen zu einer Sitzung und zusätzlich in periodischen Abständen zu Klausuren, in denen es neben inhaltlichen Themen auch um Themen der Zusammenarbeit gehe.

Klar ist, dass der auf den ersten Blick immer freundlich wirkende Monsieur Ducrot sehr bestimmt sein kann. Oder «sehr dezidiert», wie er selbst sagt: «Ich habe eine klare Sicht, was ich will. Ich weiss, wohin ich will.» Er bezeichnet sich als «Strategen», als einen, der «die Marschrichtung vorgibt». Und er wolle sicherstellen, dass der mit den betroffenen Personen abgemachte Plan umgesetzt werde. Dabei versuche er die Mitarbeitenden zu motivieren, «sie mitzunehmen», wie er sagt. Wenn alle verstanden hätten, wohin die Reise gehe, dann vertraue er ihnen «komplett, zu 100  Prozent», und lasse sie machen.

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Seine Philosophie umschreibt er mit einem Satz des französischen Schriftstellers Antoine de Saint-Exupéry: «Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen. Sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.»

Das Schiff ist noch lange nicht fertig. Und Skeptiker zweifeln bereits, ob Ducrot, der bis vor Kurzem mit den Transports publics fribourgeois (TPF) ein KMU mit rund 1000 Angestellten geführt hat, das Zeug zum Konzernchef mit 33 000 Mitarbeitenden hat. Aber einzelne Elemente stehen schon: etwa die zwei neuen Konzernbereiche «Produktion und Sicherheit» respektive «Kunden». Es sind kleine Einheiten, die im Hintergrund für eine bessere Koordination zwischen den Divisionen und Abteilungen sorgen und das Gärtli-Denken aufbrechen sollen – etwa bei der Planung von Baustellen.

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Geleitet werden die beiden Bereiche von einer Internen und einem Externen, der langjährigen SBB-Managerin Heidrun Buttler respektive dem früheren welschen Konsumentenschützer Mathieu Fleury. Ducrot und Fleury kennen sich aus der Zeit, als sie beide in der Expertengruppe «Léman 2030» sassen, welche die Planung der Grossprojekte im öffentlichen Verkehr in der Romandie koordinieren sollte. Ducrot als TPF-Chef, Fleury, der sich oft als unerbittlicher SBB-Kritiker zeigte, als Interessenvertreter der Bahnkunden.

Nun sei Ducrot auf ihn mit dem Job-Angebot zugekommen und habe ihm gesagt «Fais-le!», wie Fleury «La Liberté» anvertraute, «mach es!». Seit dem 1. Juni ist er also der Anwalt der SBB bei den Kunden und der Anwalt der Kunden bei den SBB. «Ich wollte eine kritische Stimme von aussen», ergänzt Ducrot. «Das wird uns helfen.»

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Portrait von Mathieu Fleury, SBB, am Montag, 18. Mai 2020 am SBB Hauptsitz in Bern.

Mathieu Fleury: Der frühere Konsumentenschützer verteidigt neu die Interessen der Bahnkunden innerhalb der SBB.

SBB
Portrait von Mathieu Fleury, SBB, am Montag, 18. Mai 2020 am SBB Hauptsitz in Bern.

Mathieu Fleury: Der frühere Konsumentenschützer verteidigt neu die Interessen der Bahnkunden innerhalb der SBB.

SBB

Schwieriger Verwaltungsrat

Mit dem Chefwechsel gab es bei den SBB aber nicht nur Neuzugänge, sondern auch Rücktritte. So verliess etwa Kommunikationschefin Kathrin Amacker das Unternehmen. Eher überraschend war der abrupte Abgang von Infrastrukturchef Jacques Boschung per Ende Mai – und das nach gerade mal 18 Monaten.

Der frühere Dell-Manager und interne Gegenkandidat für die Meyer-Nachfolge soll die SBB aber nicht wegen Ducrot verlassen haben, sondern wegen Reibereien mit dem Verwaltungsrat, wie auf den Gängen der SBB zu erfahren ist. Aneinandergeraten ist er, wie mehrere SBB-Kenner bestätigen, mit dem Vizepräsidenten Pierre-Alain Urech, der selbst einst die SBB-Infrastrukturdivision geleitet hatte, bevor er Ende 2003 dem Unternehmen den Rücken kehrte. 2015 kam er als Verwaltungsrat zurück und gilt seitdem faktisch als der einzige Sachverständige im insgesamt eher schwachen, von Monika Ribar präsidierten Strategiegremium.

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Letztlich ist dessen Schwäche aber auch strukturell bedingt, hat doch der Verwaltungsrat eines Unternehmens in 100-prozentigem Staatsbesitz kaum etwas zu melden, weil die Politik die Strategie diktiert. Er dient also eigentlich nur als Scharnier zwischen der Order aus dem Bundeshaus und dem operativen Geschäft. Einen offiziellen Bundesvertreter hingegen gibt es seltsamerweise nicht im Gremium.

«Der Verwaltungsrat hat das Machtvakuum genutzt, das nach Meyers Abgang entstanden ist.»

Nach der Rücktrittsankündigung des langjährigen SBB-Alleinherrschers Meyer nutzte der Verwaltungsrat die Gunst der Stunde und das entstandene Machtvakuum, um die eigene Position zu stärken. Seitdem mischt sich das Gremium viel stärker ins Tagesgeschäft ein.

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Ducrot müsse täglich mit Ribar telefonieren, wie mehrere Quellen erzählen. Offiziell heisst es nur, dass der CEO «selbstverständlich im regelmässigen Austausch» mit der Verwaltungsratspräsidentin stehe. Die Frequenz hänge von den Themen ab und sei sehr unterschiedlich.

Monika Ribar, Verwaltungsratspraesidentin SBB, links, stellt an einer Medienkonferenz den neuen CEO der SBB, Vincent Ducrot, rechts, vor, am Dienstag, 10. Dezember 2019 in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex).Monika Ribar,Vincent Ducrot

Häufiger Austausch: Vincent Ducrot mit Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar, der er oft rapportieren muss.

Keystone
Monika Ribar, Verwaltungsratspraesidentin SBB, links, stellt an einer Medienkonferenz den neuen CEO der SBB, Vincent Ducrot, rechts, vor, am Dienstag, 10. Dezember 2019 in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex).Monika Ribar,Vincent Ducrot

Häufiger Austausch: Vincent Ducrot mit Verwaltungsratspräsidentin Monika Ribar, der er oft rapportieren muss.

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«Schwieriger Einstand»

Ducrots Vorteil ist, dass er nicht nur das System des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz, sondern auch die SBB bestens kennt. 18 Jahre hatte der studierte Elektroingenieur beim Staatskonzern gearbeitet, war die Karriereleiter hochgestiegen vom einfachen IT-Mitarbeiter zum Chef Fernverkehr, bevor er 2011 die SBB in Richtung Freiburg verliess, nachdem er nicht zum Chef der Division Personenverkehr gewählt worden war.

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Meyer und der damalige SBB-Verwaltungsratspräsident Ulrich Gygi gaben dem Schweiz-Tourismus-Lenker Jürg Schmid den Vorzug, der dann bereits in der Probezeit den Bettel wieder hinschmiss – und durch die T-Systems-Managerin Jeannine Pilloud ersetzt wurde. Es ist also eine Rückkehr. Und anders als etwa Post-Chef Roberto Cirillo, der nach Stellenantritt zuerst während Monaten durch das Unternehmen touren musste, um herauszufinden, wie es funktioniert und was schiefläuft, konnte Ducrot am Tag  1 loslegen.

Es war ein einsamer Tag, wie er sagt. Und einsam waren auch die ersten drei, vier Wochen. Er war meist fast allein am SBB-Hauptsitz, nur gerade 5 der 900  Mitarbeitenden waren vor Ort. Der Rest war Corona-bedingt im Homeoffice oder in Kurzarbeit. Stundenlang sei er vor dem Computer gesessen und habe die Leute virtuell kennengelernt. «Ein schwieriger Einstand.» Besonders für jemanden, der überzeugt ist, dass nichts den persönlichen Kontakt ersetzen kann.

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Vater von sechs Kindern

Ins Büro kommt Ducrot mit der Bahn aus Freiburg, hat er doch vor Kurzem mit seinen zwei jüngsten Söhnen im Alter von 13 und 15 dort eine Wohnung gemietet. Der Arbeitsweg von seinem Haus in Echarlens im Greyerzbezirk war auch dem überzeugten Kunden des öffentlichen Verkehrs zu lang. Die Töchter sind älter und nicht mehr auf die tägliche Hilfe des Vaters angewiesen, der seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren allein für die Erziehung der sechs Kinder verantwortlich ist.

Die Kinder sind seine persönlichen Mystery Clients, sie melden ihm zuverlässig jede SBB-Panne, er selbst kann nicht mehr inkognito Zug fahren. In seinem Heimatkanton schon länger nicht mehr, dort gilt er als eine Art Säulenheiliger, seit er die Freiburger Verkehrsbetriebe modernisiert hat.

Überall gibts nur Lob für den Mann, der aus einer alteingesessenen CVP-Familie stammt. Sein Vater Henri war Kantonstierarzt, seine Mutter Rose-Marie Ducrot engagierte Politikerin: Sie war Gemeindepräsidentin von Châtel-St-Denis, Grossrätin, Grossratspräsidentin und zwischen 1995 und 1999 gar Nationalrätin. Auch seine Tante politisierte für die CVP im Kantonsparlament, und seine Schwester Martine Ruggli hat im September den amtierenden Präsidenten des Apothekerverbands herausgefordert – und die Wahl für sich entschieden. Wille und Durchsetzungskraft liegen in der Familie.

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Fokus auf das Kerngeschäft

Pünktlichkeit, Sauberkeit und Sicherheit: So lautet das Mantra von Ducrot bei seiner SBB-Mission – und das ist genau das, was seine oberste Chefin, Verkehrsministerin Simonetta Sommaruga, hören will. Anders als ihre digitalaffine Vorgängerin Doris Leuthard legt sie den Fokus wieder auf den Service public und das Kerngeschäft der SBB.

Bei der Inthronisierung von Andreas Meyer 2007 hingegen wollte man einen richtigen Manager, einen, der aus der verbeamteten Bahn ein modernes Unternehmen formte, einer, der nach dem Millionen-Grab für das papierlose «Easy Ride»-Ticketsystem zukunftsfähige Lösungen aufgleisen konnte.

Heute schlägt das Pendel wieder zurück. Denn nicht nur die Bundesrätin hat genug vom Digitalisierungsblabla der letzten Jahre, auch im Parlament wurde die Unzufriedenheit mit den SBB immer grösser. Und das nicht nur wegen Meyers Widerstand gegen die politisch geforderte Senkung seines Lohns unter die magische Grenze von einer Million. Eine Bedingung, die Ducrot ohne Murren akzeptiert hat: Seine Vergütung dürfte die 800 000 Franken nicht überschreiten.

Negativschlagzeilen ohne Ende, unzählige #ServicePoubelle-Posts auf den sozialen Medien – etwa bei Verspätungen, bei veraltetem Rollmaterial, kaputten Klimaanlagen oder defekten Toiletten. Verkehrspolitiker Jon Pult erklärt das teilweise heftige SBB-Bashing der letzten Jahre mit einer Art enttäuschter Liebe. «Die Menschen in der Schweiz wollen einfach wieder stolz sein dürfen auf ihre Bahn», sagt Pult. «Sie wollen, dass ihre Bahn wieder die weltbeste wird.» Den Versuch, die SBB als eine Art Google oder Digitalisierungsschrittmacher zu positionieren, hätten die Menschen nie richtig verstanden.

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Rechenzentren auf Rädern

Es ist ein beliebtes Instrument eines jeden neuen Chefs, Schuld für alles, was nicht gut läuft, dem Vorgänger zuzuschieben. Doch für das Debakel mit dem Fernverkehr-Doppelstockzug FV-Dosto von Bombardier muss Ducrot wenigstens einen Teil der Schuld auf sich nehmen. Denn er war es, der 2010 als Chef Fernverkehr den Zug bestellt hat, der nun mit massiver Verspätung ausgeliefert wird.

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38 Stück hat Bombardier bis anhin abgegeben, bis voraussichtlich Anfang 2022 sollten dann alle 62  bestellten Züge da sein. Die Fehler würden nach und nach ausgemerzt, verspricht der SBB-Chef. «Je mehr Kilometer wir zurücklegen können, desto mehr Erfahrung haben wir, desto besser werden die Züge.»

Verbesserungen erfolgen mehrheitlich per Software-Update – egal ob gegen das Schütteln oder bei Problemen mit den Toiletten. «Ein Zug heute ist ein Rechenzentrum auf Rädern», sagt Ducrot. «Wir haben leider die Tendenz, überall viel Technik einzubauen, was wiederum die Fehlerhäufigkeit erhöht.» Die Folgen sind Pannenmeldungen, wie jüngst, als ein Giruno-Zug im soeben eröffneten Ceneri-Tunnel stecken blieb. Ducrot zeigt sich aber zuversichtlich, dass mit der Zeit die Kritik am FV-Dosto verstummen werde, so wie einst die Kritik am heute beliebten Doppelstockzug IC2000 zuerst leiser wurde und dann völlig verschwunden ist.

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Dennoch: Nach dem Dosto-Debakel ist den SBB die Lust am Kauf von Neuentwicklungen vergangen – etwa beim jetzt anstehenden Ersatz der Dominos und Flirts. Insgesamt werden dafür 106 einstöckige S-Bahn-Triebzüge bestellt. Die drei geladenen Anbieter Stadler Rail, Alstom und Siemens steigen je mit bestehenden, erprobten Zugtypen ins Vergaberennen.

Defizit und zu wenig Cash

Die Pünktlichkeit sei mittlerweile schon besser, sagt Ducrot. Und dies nicht wegen des von ihm befohlenen Messmethodenwechsels, sondern real um ganze zwei Prozentpunkte – dank des wegen Corona ausgedünnten Fahrplans, aber auch dank besserer Koordination bei den Baustellen und der Reduktion von Störungen. «Die Richtung stimmt, aber wir sind noch nicht am Ziel.» Sonst gibt es derzeit wenig Erfreuliches zu berichten.

Corona hat ein tiefrotes Loch in der SBB-Kasse hinterlassen. Das Halbjahresresultat hat sich gegenüber 2019 um rund 750 Millionen Franken verschlechtert. Auch wenn der Bund nun dem öffentlichen Verkehr zur Hilfe eilt und den SBB rund 400  Millionen Franken zuschanzen wird, bleibt ein Defizit, das der Staatskonzern bis Ende Jahr nicht mehr aus den Büchern bringen wird.

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Prekärer als der Verlust ist jedoch die mangelnde Liquidität. Der bereits negative Free Cashflow ist noch negativer geworden, weshalb der Bund die Obergrenze für Kredite mit einer Laufzeit von bis zu einem Jahr von 200 auf 750  Millionen Franken erhöhen musste. «Damit kann die Zahlungsfähigkeit bis Ende 2020 gewährleistet werden», heisst es aus der Finanzverwaltung.

Zudem müssen die SBB und der Bund grundsätzlich über die Bücher. «Auf Basis der Planung bis 2026 werden Entscheide über weitere Massnahmen zur mittelfristigen Finanzierung der SBB gefällt», betont Ducrot. «Damit wir diese Phase überleben.» Gespräche mit dem Bund sind geplant, die SBB werden in den nächsten Wochen erste Vorschläge vorlegen.

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Denn trotz der rund 3,6 Milliarden Franken, welche die öffentliche Hand den SBB jährlich unter anderem für den Regionalverkehr und die Instandhaltung der Infrastruktur überweist, gibt es im heutigen System kaum Spielraum: Bei Cargo ist der Staatskonzern zufrieden, wenn keine Defizite resultieren, beim Regionalverkehr und bei der Infrastruktur gibt es per Definition keinen Gewinn, und beim eigenwirtschaftlich erbrachten Fernverkehr sollte dieser die 200-Millionen-Franken-Marke nicht überschreiten, sonst greift Preisüberwacher Stefan Meierhans ein.

Immobilien-Geschäft ist matchentscheidend

Bleibt also nur noch das Immobilienportfolio: Hier wollen die SBB den Gewinn von heute rund 550 Millionen «langfristig» auf rund eine Milliarde Franken anheben. «Die Erträge aus den Immobilien sind matchentscheidend», betont Ducrot. Nur dank diesen könnten die notwendigen Investitionen getätigt werden.

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In diesem Punkt geht er den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Weg weiter. Doch anders als unter Meyer soll künftig nichts mehr verkauft werden – oder nur noch in Ausnahmefällen und in kleinem Umfang. «Wir wollen unsere Immobilien behalten und selber entwickeln.»

Bahnhof Zürich oerlikon

Geldmaschine Immobilien: Die SBB wollen in Zukunft keine Immobilien mehr verkaufen, sondern diese selbst entwickeln und bewirtschaften, wie etwa den Franklinturm beim Bahnhof Zürich Oerlikon.

ZVG
Bahnhof Zürich oerlikon

Geldmaschine Immobilien: Die SBB wollen in Zukunft keine Immobilien mehr verkaufen, sondern diese selbst entwickeln und bewirtschaften, wie etwa den Franklinturm beim Bahnhof Zürich Oerlikon.

ZVG

Um die finanziell heikle Situation zu meistern, kann Ducrot aber nicht nur auf den Bund setzen, auch die SBB müssen ihren Beitrag leisten. Kurzfristig heisst das: bessere Planung der Investitionen und die Kunden nach dem Corona-Taucher wieder zurückgewinnen. Der SBB-Chef glaubt nicht, dass die Bahn und der öffentliche Verkehr wegen der Pandemie langfristig leiden würden. «Nach 9/11 sind die Leute wieder zurückgekommen.»

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Aber das reicht nicht: Die SBB müssen auch sparen, 250 Millionen Franken bis Ende Jahr. Bereits hat er einen Stellenstopp in der Verwaltung verhängt, die in der Ära Meyer stark aufgeblasen wurde. Mehr Leute hingegen will Ducrot in den Bahnhöfen und auf den Perrons, dort, wo die Kunden sind. Um die gehe es schliesslich. Und um die Bahn.

Den Tunnel für die rote Lokomotive in der «Souvenir»-Wand seines Sitzungszimmers hat Vincent Ducrot übrigens selbst gebastelt, wie er sagt. Als eine konkrete Antwort auf ein konkretes Bedürfnis.

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