Guten Tag,
Sie könnten bombastischer kaum sein: die Kühlergrills unserer Zeit. Aufstieg und Fall der «Grillkrieger».
Christopher Butt
Ein Statussymbol und ein Zeitmarker: Der Kühlergrill vorne am Fahrzeug.
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Form follows function» gilt als Design-Schlachtruf schlechthin. Auch im Automobilbereich – ganz so, als wäre das Automobil kein hochemotionales Produkt, dessen Funktion eben nicht nur darin besteht, dass Mensch und Gepäck schnell, sicher und komfortabel von A nach B gelangen.
In Wahrheit gehört zu den massgeblichen Funktionen eines Automobils im 21. Jahrhundert eben auch, dem Kunden und der Kundin die Möglichkeit der Identifikation zu bieten. Oder besser noch: der Projektion eigener Sehnsüchte. Status, Sicherheit, Macht, Progressivität: All das will in Blech, Plastik, Chrom und LEDs ausgedrückt werden. Je nachdem, wonach der Zeitgeist gerade, vermeintlich oder tatsächlich, verlangt.
Dass die Front des Automobils als dessen «Gesicht» auch von jeher dessen «Seele» widerspiegelt, ist somit keineswegs eine esoterische Unterstellung. Seit Jahrzehnten erklären Designer nur allzu gerne der Öffentlichkeit, was welches Licht-Arrangement und die konkrete Platzierung der Lufteinlässe vermitteln soll – man denke an den schönen Ausdruck des «Überholprestiges». Trotz weitgehend gleichbleibender Komponenten entstanden dabei allerlei Moden, eben weil beim Auto die Form niemals bloss der Funktion folgt. Ein Umstand, den nichts besser illustriert als die gestalterische Eskalation rund um den Kühlergrill, die man, in Anlehnung an den zugrunde liegenden martialischen Geist, mittlerweile ruhig als «Grillkrieg» bezeichnen darf.
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Beinahe so alt wie das Automobil selbst, wurde der Grill von dem Moment an, als der Personenkraftwagen begann, sich von der Anmutung und Funktion der motorisierten Kutsche zu emanzipieren, essenzieller Bestandteil der Automobilform. Als die Hersteller von Motorkraftwagen zwischen den Weltkriegen anfingen, zu Marken zu werden, erhielt der Grill eine Funktion weit über die Motorkühlung hinaus und wurde zum Symbol des jeweiligen Produkts, an dessen Front er montiert war.
«GRILLKRIEGER» DER NEUZEIT Vor allem BMW tritt aktuell martialisch auf. Links der kleine BMW XM, rechts der M4 Coupé.
PD«GRILLKRIEGER» DER NEUZEIT Vor allem BMW tritt aktuell martialisch auf. Links der kleine BMW XM, rechts der M4 Coupé.
PDBereits zu jenem Zeitpunkt wurde der Grill aber nicht nur als Produkt-, sondern auch als Markensymbol etabliert: Man denke nur an Mercedes, BMW oder Rolls-Royce, die ihren damaligen Grillgrafiken im weitesten Sinne bis heute die Treue halten. Dasselbe kann man von den diversen Emblemen, die seinerzeit noch auf dem Grill platziert wurden und das eigentliche Markenzeichen darstellten, kaum sagen. Selbst Mercedes-Benz hatte ja vor nicht allzu langer Zeit den freistehenden Stern aufs Abstellgleis beziehungsweise ausschliesslich auf den Grill der S-Klasse gestellt (eine verantwortungslose Entscheidung, welche inzwischen relativiert wurde).
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Während der Grill – und oftmals auch noch die darauf befestigten Maskottchen – im Nachkriegs-Automobildesign zunächst noch an seine im wortwörtlichen Sinne herausragende Rolle anknüpfen konnte, schwand seine Bedeutung ab den sechziger Jahren. Die tradierte vertikale Ausrichtung wich einer immer horizontaleren, bündig in die Karosserie integrierten Anordnung.
Ab etwa Mitte der siebziger Jahre blieb vom klassischen Grill – zumindest in Europa – kaum noch etwas übrig. Stattdessen dominierten horizontale Lufteinlässe, gerne über die komplette Breite der Front gezogen, das immer nüchterner werdende Strassenbild. Ausnahmen waren dabei die überzeugten Traditionalisten aus Stuttgart-Sindelfingen, die seinerzeit noch aus Überzeugung «in Rufweite hinter der Mode» blieben.
Aus der Perspektive des Jahres 2023, nach einer guten Dekade heftigen «Grillkriegs», erscheint es beinahe undenkbar, dass der klassische Grill eine ganze Weile nicht bloss aus der Mode gekommen war, sondern innerhalb des Autodesign-Sektors als geradezu reaktionär angesehen wurde.
Dies war einerseits Konsequenz der diversen Krisen der siebziger Jahre: Vor dem Hintergrund der Ölkrisen war Effizienz zum grossen Leitmotiv der Automobilentwicklung geworden, wodurch sich die Aerodynamik als einer der dominierenden gestalterischen Aspekte etablierte. Minimierte Stirnflächen statt stolzer Grills, so lautete die allgemeine Marschrichtung. Dieser Effekt wurde durch die politischen und sozialen Krisen jener Zeit noch verstärkt, was dazu führte, dass selbst die urtypische «Bonzenkarre», die Mercedes S-Klasse, ab dem Jahr 1979 windoptimiert und mit zwar immer noch präsentem, aber bei Weitem nicht mehr so auftrumpfendem Grill wie in der Vergangenheit Politiker und Wirtschaftsführer in und durch die Metropolen der Welt transportierte.
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«FRONTKÄMPFER» AUS DEN USA Oben der Ford-Truck F150, unten der GMC Yukon Denali von General Motors.
PD«FRONTKÄMPFER» AUS DEN USA Oben der Ford-Truck F150, unten der GMC Yukon Denali von General Motors.
PDEs waren jedoch nicht nur politische und wirtschaftliche Widerstände, die zur zeitweiligen Marginalisierung des Grills beitrugen. Im Sportwagenbau, wo der Luftwiderstandsbeiwert weniger auf minimierten Benzinverbrauch denn auf maximierte Höchstgeschwindigkeit bezogen wurde, war der klassische Grill – obschon von jeher tiefer und dezenter platziert als an der traditionellen Limousine – schon ein gutes Jahrzehnt zuvor visuell degradiert worden.
Schamvoll unterhalb der Stossstange platziert und gerne in diskretes Schwarz gehüllt, wurde der Sportwagengrill gute zwei Jahrzehnte lang ebenso getilgt wie der Scheinwerfer, der unter allerlei Klappen verschwand, ehe der Fussgängerschutz ihn wieder prominent auf der Fahrzeugfront platzierte.
Ein erstes klares Zeichen für eine Renaissance des Grills erschien 1987, als BMW die zweite Generation des Siebeners vorstellte – samt breiter Niere für die spektakuläre Zwölfzylinder-Variante. Auch als Reaktion auf den durchschlagenden Erfolg der selbstbewusst gestalteten bayrischen Luxuslimousine legte Mercedes den Ur-Grill in standesbewussterer Form neu auf: 1991 erschien die S-Klasse der Baureihe W140, welche der Ölkrisen-Diskretion des Vorgängermodells mit Nachdruck abschwor.
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Entsprechend triumphal fiel der Grill aus, welcher sich zwar in den Wind lehnte, aber ansonsten eine Rückkehr zur alten Opulenz markierte – pünktlich zu Beginn des Golfkrieges und erneuter Rezession. Daheim brachte dies dem grossen Mercedes Häme und Anfeindung ein – doch ausserhalb Europas, von den Vereinigten Staaten bis nach Japan, und später in Russland sowie Osteuropa wurde das wuchtige Statusbewusstsein jenes Sonderklasse-Designs in jeglicher Hinsicht honoriert. In aller Offenheit zeigten sich an dieser Stelle die unterschiedlichen Geschmäcker der verschiedenen Märkte, die zukünftig eine immer dominantere Rolle spielen sollten.
RÜCKZUG DER GRILLS Oben die Designikone Citroën DS von 1967, unten die Mercedes S-Klasse von 1979.
PDRÜCKZUG DER GRILLS Oben die Designikone Citroën DS von 1967, unten die Mercedes S-Klasse von 1979.
PDWährend der Stuttgarter Platzhirsch mit dem Münchner Parvenu um die Vormachtstellung im gehobenen Automobilbau rang, bemühte sich ein weiterer Aufsteiger um den Einstieg ins Oberklasse-Kräftemessen. Aus der oberbayrischen Provinz, getrieben vom Exzellenzstreben von Ferdinand Piëch, das auch und insbesondere das Design einbezog, rüttelte Audi mit Vehemenz am Tor zum Club der Premiummarken. Erlesenst ausgestattete Innenräume und klar gestaltete Karosserien hatten sich seit den frühen achtziger Jahren als Audis Markeninsignien etabliert. Im Laufe der Neunziger gesellte sich ein rigoroser Bezug zur Bauhaus-Ästhetik hinzu – und doch fehlte der Marke, die in ihrer aktuellen Form erst seit 1969 besteht, im Vergleich zum Establishment immer noch der Siegelring des Automobil-Adels. Es fehlte der Markengrill.
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Auch wenn sich die Historie der Marke Audi weitaus weniger geradlinig darstellt als jene der etablierten Konkurrenz, wollte man sich in Ingolstadt Ende der neunziger Jahre nicht davon abhalten lassen, quasi rückwirkend einen eigenen Traditionsgrill zu erschaffen. Zu diesem Zweck bezog man sich auf die Auto-Union-Rennwagen der dreissiger Jahre, deren Schlund denn auch das Rosemeyer-Konzeptfahrzeug aus dem Jahr 2000 schmückte. Jene Form, wenn auch in weniger martialischer Ausprägung, sollte zukünftigen Audis jenen ersehnten selbstbewussten, wiedererkennbaren Ausdruck verleihen, den die BMW-Niere und der Mercedes-Grill traditionell aufwiesen. 2004 ging es los: Analog zum Siebener 15 Jahre zuvor, war es nun das Zwölfzylinder-Spitzenmodell des A8, welches per Grill seine Mitgliedschaft im Oberklasse-Club einforderte. Der Rest der Modellpalette folgte.
Natürlich lag der Aufstieg Audis zur ebenbürtigen Premiummarke nicht ursächlich am berühmt-berüchtigten Singleframe-Grill – dieser unterstrich den Status der Ingolstädter, statt ihn zu begründen. Doch auch wenn es sich dabei um blosse Symbolik handelte, verfehlte diese ihre Wirkung nicht. Ab jenem Punkt war der Industrie klar: Jede Marke hat den Grill, den sie verdient.
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Für etwa eine Dekade genoss Audi daraufhin Exklusivität in Sachen Riesengrill, ehe Lexus mit dem immensen «Diabolo»-Maul die bisherige eigene Zurückhaltung in Sachen Grilldesign in den Wind schoss. Jenes schrille Ausrufezeichen war keine blosse Nachahmung des Audi-Masterplans, sondern untermauerte, was zuvor bereits die bieder-mächtige «Helmut Kohl»-S-Klasse unter Beweis gestellt hatte: andere Märkte, andere Geschmäcker.
In den Vereinigten Staaten etwa hatten sich die heimischen Marken, nach guten zwei Jahrzehnten der zunehmenden Design-Verlangweilung, wieder stärker auf eigene gestalterische Ansätze bezogen. Diese reichten von nostalgischem Retro-(Fords «Living Legends»-Modelle, Chevrolet Camaro, Dodge Charger) bis hin zum Macho-Design diverser Pick-ups und Full-Size-SUVs. Beide Ansätze führten dazu, dass Frontpartien vermehrt wieder mit Opulenz versehen wurden, wie man sie seit den frühen Siebzigern nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte (man denke etwa an den Chrysler 300). Auf die Nutzfahrzeug-Dimensionen der Pick-upund SUV-Schnauzen angewandt, führte dies schnell zu brachialer Optik, bei der nicht nur Küchenpsychologen schnell auf das Thema «Überkompensation» zu sprechen kamen. Parallel schied das traditionelle Segment der US-Limousinen, insbesondere im höheren Segment, beinahe komplett dahin. Wo früher De Villes und Town Cars mit Länge und Chrom Status vermittelten, verdunkelten nun Bodybuilder-mannshohe Navigators und Escalades die Sonne – vorausgesetzt, selbige wurde nicht von den enormen, üppigst chromverzierten Frontgrills reflektiert.
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Zu jenem Zeitpunkt hatte das Reich der Mitte bereits Nordamerika als Schicksalsmarkt der Autoindustrie abgelöst. Ohne eigene Autohistorie und -kultur, bot China, neben der Aussicht auf immense Absatzsteigerung, auch Gelegenheit, einem unerfahrenen, gierigen Markt mit stilistischen Unterstellungen zu begegnen.
Im Premiumsektor waren die deutschen Hersteller in den Jahrzehnten zuvor, trotz ebenfalls erheblicher Abhängigkeit vom nordamerikanischen Exportmarkt, ja stets darauf bedacht gewesen, ein solides Mass an teutonischer Solidität in der Gestaltung beizubehalten – selbst bei der riesigen, daheim verspotteten, aber eben immer noch sachlich gestalteten W140-S-Klasse von Mercedes. In Stuttgart war man eben, nicht zu Unrecht, davon ausgegangen, dass deutsche Edelfahrzeuge nicht trotz, sondern auch wegen der ihnen zugrunde liegenden gestalterischen Werte Abnehmer fanden. Im Gegensatz dazu lag es nun an China, so wurde zumindest gerne hinter vorgehaltener Hand kolportiert, zu diktieren, was Begehrlichkeiten weckt.
GRILLEN IM ANGESICHT DES TEUFELS Die japanische Luxusmarke Lexus mit ihrem aktuellen «Diabolo»-Kühlergrill.
PDGRILLEN IM ANGESICHT DES TEUFELS Die japanische Luxusmarke Lexus mit ihrem aktuellen «Diabolo»-Kühlergrill.
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Zu jenem Zeitpunkt war die chinesische Autoindustrie gestalterisch noch in ihren Kinderschuhen und entsprechend ohne kreativen Einfluss auf den weltweiten Sektor. Sie fiel somit als Orientierung bei der Anpassung an den chinesischen Kundengeschmack aus. Doch die mystische Figur des Loong, des chinesischen Drachens, bot gewisse Anhaltspunkte, welche Art Ausdruck für China-kompatibles Automobildesign genehm sein könnte: ornamentales Gesicht mit Grimasse, dahinter ein schlanker Schweif. War es das, wonach sich die chinesische Oberschicht sehnte – abgesehen von Limousinen in Langversion für den Chauffeurbetrieb?
Tatsächliche oder unterstellte chinesische Vorlieben, der Aufstieg der SUVs, amerikanische Kraftmeierei und die gesellschaftliche Polarisierung des Westens, in der das Automobil – Tesla zunächst ausgenommen – von manchen zunehmend als das aggressiv-reaktionäre Symbol schlechthin identifiziert wurde (was in manchen Designabteilungen scheinbar die Narrenfreiheit ausrief ) kulminierten zum Ende der 2010er Jahre in einem regelrechten Wettstreit um immer grössere, immer martialischere Grilldesigns; manche Frontpartie erschien wie der Trichter eines Fleischwolfs für unterlegene Verkehrsteilnehmer. Wie oft genug in der Vergangenheit steigerten sich die verschiedenen Fraktionen der Autodesign-Industrie wechselseitig in die Raserei: Viel Grill hilft viel.
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Anno 2023 haben wir nun jedoch den «Peak Grille» erreicht. An ihrem Bestseller F150 wird Ford bei zukünftigen Modellgenerationen dem Grill schlichtweg kaum weiteren Raum zugestehen können. Der Cadillac Escalade ist seit Kurzem bereits ein klein wenig bescheidener geworden, was dessen Schlunddimensionen anbelangt. Und dann wäre da natürlich noch BMW: Jahrelang haben die Bayern die Grill-Eskalation geradezu trotzig wie massgeblich vorangetrieben, dabei kritische Markenenthusiasten mit dem Narrativ vor den Kopf gestossen, diese seien bloss zu rückständig, die progressive kreative Klasse der bis zum Platzen angeschwollenen Nieren anzuerkennen («Fans sind keine Kunden!»). Als Tribut an ein halbes Jahrhundert BMW Motorsport GmbH erschien im vergangenen Jahr mit dem XM schliesslich der eine Grill, um sie alle zu knechten.
Wie sich seither herausstellte, sind es allerdings nicht nur weisse, alte, europäische Autonostalgiker, denen es schwerfällt, dem Monstergrill Liebe entgegenzubringen. Auch im gelobten Autoland China ist die Liebe zum Grill, sollte sie denn je so ausgeprägt gewesen sein wie behauptet, merklich erkaltet. Gerade bei Elektrofahrzeugen brauchen und wollen chinesische Kunden keine überdimensionierten Nüstern, um ihren Status zu dokumentieren – ganz im Gegenteil, wie der dortige Verkaufserfolg des flachen, grillfreien Porsche Taycan beweist.
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In China und Korea ist man indes gestalterisch sowieso längst viel weiter. Dass mit dem Verbrennermotor auch der traditionelle Kühlergrill obsolet würde, war ja auf logischer Ebene schon länger klar. Nun zeigt sich allerdings konkret, was dies bedeutet: etwa bei Hyundai, wo Leuchtbänder im Pixeldesign die Marke bereits effektiver symbolisieren, als es eine der diversen Grillformen, mit denen die Koreaner im Laufe der Jahrzehnte herumexperimentiert hatten, je vermochte. Bei einer der unter Designaspekten spannendsten Marken dieser Tage, GAC aus Guangzhou, besitzt kein einziges der diversen Concept Cars noch einen Grill – stattdessen experimentiert man mit diversen Leuchtelementen und Displays in allerlei Arrangements.
Selbst bei BMW scheint der Grill plötzlich keine ganz so heisse Angelegenheit mehr zu sein. Das «Neue Klasse» genannte Concept Car, das auf der diesjährigen IAA in München nachdrücklich als konkreter Ausblick in die Zukunft der Marke angepriesen wurde, besitzt jedenfalls statt eines horizontalen Riesengrills zwei schwarze vertikale Blenden, welche Scheinwerfer und Leuchtgrafiken beherbergen. Oder, in anderen Worten: Im «Grillkrieg» wurde die weisse Fahne gehisst.
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