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Die Strippenzieherin beim Seco: Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch hat an der Spitze des Seco, der wichtigsten Wirtschaftsbehörde im Land, viel im Hintergrund bewirkt.

Bastian Heiniger

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, Direktorin des Direktorin des Staatssekretariats für Wirtschaft sowie Direktorin der Direktion für Aussenwirtschaft in Bern.

IM DIENST DES BUNDES Nach elf Jahren an der Spitze des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) tritt Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch Ende Juli ab.

Joan Minder / 13 Photo

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Da steckte sie nun in der Antarktis fest. Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch reiste 2011 zum Südpol, zwei Wochen Bergsteigen waren angesagt. Weil aber das Flugzeug sie nicht pünktlich abholen konnte, verlängerte sich der Aufenthalt um weitere zwei Wochen. Die Vorräte schwanden allmählich dahin, die Kälte wurde immer mehr zur Prüfung, nicht einmal sanitäre Anlagen gab es im Zeltcamp. Zudem hätte sie längst in Bern erscheinen sollen – zum Assessment für die Stelle als Chefin des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco). Via Satellitentelefon gab sie durch, dass sie den Termin verschieben müsse.

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Direkt am Tag nach der Rückkehr stand sie dann auf der Matte. Und überzeugte. Erholung nach den Strapazen? Unnötig. Noch heute sagt Ineichen-Fleisch, der Assessor habe wohl gedacht, sie wolle ihn hochnehmen, als er fragte, was sie denn gestern so gemacht habe.

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Keine Kühlerfigur 

«Beruflich kann mich seither kaum etwas erschüttern. Solche Erlebnisse härten ab», sagt sie an einem Mittwochabend im Mai in ihrem Büro. Dass ihre Ära mit 61 Jahren als erste Frau an der Spitze eines Staatssekretariats im Juli endet, merkt man ihr nicht an. Über Themen spricht sie so, als bliebe sie noch Jahre im Amt. Und auch ihr Büro sieht danach aus: Hinter ihrem Tisch liegen mehr als ein Dutzend akkurat aufgereihte Mäppchen, Dossiers zu Corona-Themen. Vis-à-vis ein USM-Regal mit lauter anderen Dossiers.

Schaut die passionierte Bergsteigerin rechts aus dem Fenster, sieht sie die Alpen. Schaut sie links hinaus, sieht sie die Arbeit – das Bundeshaus. Ob die Seco-Chefin nun zum Bundeshaus hoch oder hinunter schaut, lässt sich von der Anhöhe im südlichen Berner Aussenquartier, wo das Seco seinen Sitz hat, nicht so recht ausmachen.

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Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

Bundesrat Guy Parmelin, rechts, und Helene Budliger Artieda, designierter Staatssekretaerin des Staatssekretariats fuer Wirtschaft (SECO), links, kommen zur einer Medienkonferenz ueber die Ernennung der neuen Staatssekretaerin des Staatssekretariats fuer Wirtschaft (SECO), am Mittwoch, 4. Mai 2022, im Medienzentrum Bundeshaus in Bern. (KEYSTONE/Anthony Anex)
Indian Prime Minister Narendra Modi talks to Swiss State Secretary at the Secretariat for Economic Affairs (SECO) Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch in Geneva, Switzerland June 6, 2016. REUTERS/Denis Balibouse - LR1EC660N2UD7
Geng Wengbing, Botschafter der Volksrepublik China, spricht mit Seco-Direktorin Marie Gabrielle Ineichen-Fleisch, anlaesslich einer Tagung ueber eine Evaluierung des Freihandesabkommens zwischen der Schweiz und China, am Mittwoch, 26. September 2018, in St. Gallen. Das Abkommen besteht seit 2014. Die Uni St. Gallen hat nun mit zwei chinesischen Hochschulen eine Untersuchung des Abkommens vorgenommen. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)
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GROSSE BÜHNE Helene Budliger (l.) leitet unter Guy Parmelin (r.) künftig das Seco. Sie tritt in grosse Fussstapfen.

Keystone

Böse Zungen behaupten ja, eigentlich führe sie den Bundesrat und nicht umgekehrt. Sicher ist: Ineichen-Fleisch ist keine Frau, die sich gerne in den Vordergrund drängt. Genau das wird ihr aber auch angekreidet. Nämlich dass sie gerade in der Pandemie zu wenig das Gesicht des Seco war und zu oft die ihr unterstellten Direktoren vorschickte. Ging es um Kurzarbeit oder Überbrückungskredite, trat an den Medienkonferenzen Boris Zürcher von der Direktion für Arbeit auf. Ging es um Tourismus, war es Eric Jakob. Und ging es um Wirtschaftspolitik, kam Eric Scheidegger zum Zug.

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Die Seco-Chefin eignet sich nicht als Kühlerfigur, wie sie bei Grosskonzernen gemeinhin der CEO verkörpert. Und sie will es auch gar nicht sein. «Wir sind ein starkes Team, und mir ist wichtig, dass sich unsere Geschäftsleitungsmitglieder ebenso präsentieren können», sagt sie. Ihre partielle Zurückhaltung sei gewollt. Sie tritt zwar gerne auf, noch lieber zieht sie im Hintergrund die Strippen.

Antiglobalisierung

Ineichen-Fleisch, so hört man aus Wirtschaftskreisen, sei keine, die tief in die spröden Dossiers wie etwa zum hiesigen Arbeitsmarkt eintauche. Ihre Welt ist vielmehr das strahlendere internationale Parkett. Im Seco hat sie quasi eine Doppelfunktion. Sie leitet nicht nur das wichtigste der fünf Staatssekretariate mit seinen 800 Mitarbeitern, sie verantwortet zugleich die Direktion für Aussenwirtschaft – also die wichtigste Sektion innerhalb des Seco. Hier werden in langjähriger Arbeit die Freihandelsabkommen vorgespurt, sodass im Idealfall der Bundesrat am Schluss die letzten Forderungen vereinbart und die Unterschrift setzt. Aktuell besitzt die Schweiz 33 Abkommen mit 43 Partnern – knapp die Hälfte davon kam unter der Ägide von Ineichen-Fleisch zustande.

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Es ist das Verhandeln, Feilschen, Abwägen, das Diskutieren hinter den Kulissen, das die studierte Juristin schon früh in der Karriere antrieb. Heute spricht sie neben den vier Amtssprachen auch Spanisch, Russisch und Chinesisch, wobei es da beim aktiven Gebrauch inzwischen etwas hapere. Ihr wird nachgesagt, ein fotografisches Gedächtnis zu haben. Für eine Bernerin redet sie ungewöhnlich schnell und wirft im Gespräch mit Jahreszahlen und Anekdoten nur so um sich, ihr Duktus dabei ist stets ausbalanciert zwischen freundlich und bestimmt.

Foto: Joan Minder / 13 Photo

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Den Einstieg machte sie bei McKinsey in Zürich, nach einem Jahr holte sie sich den MBA und kam 1990 zum damaligen Bundesamt für Aussenwirtschaft (BAWI) – dem Vorläufer des Seco, das kurz vor der Jahrtausendwende aus der Fusion mit dem Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (BIGA) entstand. Und als die Schweiz 1992 zustimmte, Mitglied der Weltbank zu werden, ging sie als Mitarbeiterin des ersten Schweizer Exekutivdirektors mit nach Washington. Mitte der neunziger Jahre kehrte sie zurück zum BAWI und kümmerte sich um Belange der damals gegründeten Welthandelsorganisation WTO.

Geprägt hatte sie dabei besonders 1999 eine WTO-Ministerkonferenz in Seattle. «Das ist für mich aus heutiger Sicht der Anfang der Antiglobalisierungs-Tendenz.» Während die Abgesandten tagten, füllten sich innerhalb von Minuten die ganzen Strassen rund um das Kongresszentrum mit Demonstranten, die sich teils gegenseitig anketteten – im Kampf gegen eine weitere Liberalisierungsrunde für Marktöffnungen und den Abbau von Zöllen. Es folgten Ausgangssperren in der Stadt. Zwar habe es davor schon Kritik gegeben, aber noch keinen derart handfesten Protest. Bewirkt habe dieser etwa, dass in späteren Runden die Bedürfnisse von Entwicklungsländern stärker einbezogen wurden.

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Ihr grösster Wurf als Staatssekretärin ist das Freihandelsabkommen mit China, das 2014 in Kraft trat. Patrick Ziltener, Dozent für Soziologie und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich, war einst selbst für vier Jahre beim Seco tätig und erlebte Ineichen-Fleischs Anfänge. «Früher war die Schweiz bei Freihandelsabkommen in der Defensive. Dann kamen wir jedoch auf den Geschmack und wurden zum Speedboat», sagt er. Die Schweiz schloss vor der EU ein Abkommen mit Japan und als bisher einziges westliches Land mit China. Ineichen-Fleisch erlebte er als konstruktiv, kooperativ und nicht autoritär.

««Früher war die Schweiz bei Freihandelsabkommen in der Defensive. Dann wurden wir zum Speedboat.» »

Patrick Ziltener

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Ein Gespür für das Gegenüber sei entscheidend in Verhandlungen, sagt sie. Geholfen habe auch, dass sie sich auf Chinesisch unterhalten konnte. Während mehrerer Jahre waren bis zu 30-köpfige Verhandlungsdelegationen aus Fernost in Bern. Der Chefunterhändler sass dann oft am Abend in ihrem Büro, bei Tee und Kaffee wurden Knackpunkte besprochen. Oder man nahm mit der gesamten Delegation ein Abendessen in einem «Rössli» oder «Löwen». Schliesslich hat gerade der informelle Austausch besonderes Gewicht.

China ist heute nach Deutschland und den USA das wichtigste Exportland der Schweiz. Doch aus Sicht des SP-Ständerats und Gewerkschafters Paul Rechsteiner habe das Seco stark an Relevanz eingebüsst. «Die Musik spielt nicht mehr in der Handelsdiplomatie, sondern im Arbeitsmarkt und in der Beziehung zu Europa. Und da haben wir einen Stillstand.» Er wünsche sich wieder mehr Nähe zur realen Wirtschaft.

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Baustelle für Nachfolgerin 

Ähnlich tönt es aufseiten des Schweizer Arbeitgeberverbands. «Wir erwarten vom Seco eine verstärkte Vermittlerrolle bei der Sozialpartnerschaft», sagt Arbeitgeber-Präsident Valentin Vogt. «Und zwar indem es eigene Lösungsvorschläge einbringt. Zudem sollte das Seco proaktiv die Themenführerschaft in wirtschaftspolitischen Fachfragen wie etwa dem EU-Dossier und der Kriegswirtschaft übernehmen.»

Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

ZUKUNFT Einige Angebote hat die scheidende Staatssekretärin bereits auf dem Tisch. Erst wird es jedoch auf eine längere Skitour gehen.

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Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch

ZUKUNFT Einige Angebote hat die scheidende Staatssekretärin bereits auf dem Tisch. Erst wird es jedoch auf eine längere Skitour gehen.

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Den Vorwurf, dass sich Ineichen-Fleisch zu stark nur auf den Freihandel fokussierte, möchte sie nicht stehen lassen. «In den letzten zweieinhalb Jahren haben wir kaum etwas anderes gemacht als Binnenwirtschaft.» Kurzarbeit, Covid-Kredite, Härtefälle – das haben wir alles umgesetzt. Jüngst war das Seco besonders mit der Umsetzung der Sanktionen beschäftigt. Es hat Vermögenswerte von 1093 Personen und 80 Unternehmen gesperrt, insgesamt in der Höhe von 6,3 Milliarden Franken.

Aus den Wirtschaftsverbänden hört man denn auch positive Stimmen: «Finanzkrise, Protektionismus, Frankenschock, Covid und Krieg – das lief alles über ihr Pult. Chapeau!», sagt jemand, der anonym bleiben möchte. Will man schliesslich über ihre Leistung urteilen, lohnt sich ein Blick auf die Kernziele des Seco: nachhaltiges Wirtschaftswachstum, hohe Beschäftigung und faire Arbeitsbedingungen. Man muss kein Ökonom sein, um zu sehen, dass die Schweiz in allen drei Punkten glänzt.

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Ein wenig wurmt es Ineichen-Fleisch aber schon, dass sie bald abtritt und sich mit dem Krieg in der Ukraine für das Seco ein riesiges Fass aufgetan hat, an dessen Schliessung sie nicht mehr mitwirken wird. Als sie im Sommer 2021 den Rücktritt bekannt gab, dachte sie, vieles sei nun abgeschlossen: der Umgang mit der Pandemie und die im November vom Bundesrat verabschiedete neuen Strategie zur Aussenwirtschaftspolitik. «Und ich wollte abtreten, solange ich noch in voller Schaffenskraft bin.»

Ihre kürzlich bestimmte Nachfolgerin Helene Budliger kennt sie seit 20 Jahren. «Eine gute Wahl», sagt Ineichen-Fleisch. Ob Budliger den passenden Rucksack mitbringe? «Als ich Staatssekretärin wurde, musste ich mich in das eine oder andere Thema auch erst einarbeiten.» Auf dem Schirm hatte die derzeitige Botschafterin in Thailand jedenfalls niemand.

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Wohin es Ineichen-Fleisch künftig verschlägt, weiss sie noch nicht. Angebote habe sie einige auf dem Tisch. Erst wolle sie aber den Kopf durchlüften. Mit ihrem Mann wird sie auf Ski den Alpenkamm überqueren – von Slowenien bis Nizza.

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