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Monika Schnitzer

«Deutschland hat keine Vision»

Die Wirtschaftsweise über Deutschlands Misere, die Regierung Merz und Auswirkungen auf die Schweiz.

Ueli Kneubühler

<p>Monika Schnitzer plädiert für mehr Unabhän­gigkeit – auch in der Rüstungs­industrie.</p>

Monika Schnitzer plädiert für mehr Unabhängigkeit – auch in der Rüstungsindustrie.

Florian Generotzky für BILANZ

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Protektionismus, geopolitisches Säbelrasseln, Wirtschaftsabschwung: Man sollte meinen, in Zeiten wie diesen sei bei der Wirtschaftweisen Monika Schnitzer «Land unter». Weit gefehlt. Für unser Gespräch nimmt sie sich ausführlich Zeit. Man solle doch nach München kommen, meint sie. Am Ende sprechen wir uns virtuell. Sie sitzt gut gelaunt im schwarzen Lederstuhl vor einem abstraktem Gemälde und sagt: «Legen Sie los.»

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Frau Schnitzer, er misst 1,96 Meter, ist wenig beliebt in der Bevölkerung, hat keine Exekutiverfahrung und hat die AfD im Nacken. Ist der neue Bundeskanzler Merz für die deutsche Wirtschaft Chance oder Bürde?

Für bestimmte Prozesse ist es sicher gut, wenn man Regierungserfahrung hat: bei Fragen, wie die Dinge laufen, wie und wann man Leute zusammenbringen und ins Boot holen muss, gerade auch auf dem internationalen Paket. Da hilft Erfahrung schon. Aber ein frischer Blick von aussen kann auch helfen. Man kann neue Ideen einbringen und Themen neu angehen.

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Als erster Kanzler überhaupt musste Merz über zwei Wahlgänge gehen. Eine Hypothek?

Das hängt ganz davon ab, ob das Kabinett nun schnell ins Handeln kommt, seine Versprechen einlöst, und dies vor allem geräuschlos. Wenn sich die neue Regierung zusammenreisst, dann glaube ich, dass die zwei Wahlgänge eine Fussnote bleiben. Was mir mehr Sorgen macht, sind die Diskussionen um Inhalte und Verantwortlichkeiten, kaum dass die Tinte des Koalitionsvertrags trocken ist. Neue Diskussionen gerne, aber bitte erst mal hinter verschlossenen Türen. Etwas weniger Geräuschkulisse wäre hilfreich.

Weise Ratschläge für Deutschland

Monika Schnitzer ist seit 2022 Vorsitzende des Sachverständigenrates Wirtschaft zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wie das Gremium etwas sperrig heisst. Besser bekannt ist es unter dem Begriff der Wirtschaftsweisen. Die 63-Jährige ist seit fünf Jahren Mitglied und steht dem seit mehr als 60 Jahren bestehenden Gremium als erste Frau vor. Die fünf Mitglieder nehmen aus unabhängiger Expertensicht eine periodische Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands vor. Schnitzer ist Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Die To-do-Liste ist lang. Die deutsche Wirtschaft steuert im dritten Jahr in Folge in eine Rezession.

In der Tat, Deutschland wird vermutlich das dritte Jahr in Folge eine Stagnation erleben, und es sieht noch nicht nach einer deutlichen Trendänderung aus. Deutschland ist das Schlusslicht, auch wegen der grossen Abhängigkeit von russischem Gas bis vor Kurzem. In anderen europäischen Ländern läuft es besser.

Deutschlands Probleme sind struktureller Natur.

Ja, aber es wäre falsch, den Schwarzen Peter nur der vorgängigen Ampelkoalition anzukreiden. Die Streitereien innerhalb der Ampel haben natürlich nicht geholfen. Aber auch die Industrie selbst hat ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Inwiefern?

Die deutschen Exporte ziehen nicht mehr so stark an, wenn die Weltwirtschaft wächst. Das liegt natürlich daran, dass bei uns Energie- und Arbeitskosten hoch sind, was nicht neu ist. Wir sehen aber auch, dass die Produkte nicht mehr überzeugen, dass sie nicht mehr konkurrenzfähig sind. Nehmen Sie die Autoindustrie. In China verkaufen sich die deutschen Autos einfach nicht mehr so gut, weil weniger Verbrenner gekauft werden und die deutschen Elektroautos noch nicht konkurrenzfähig sind. Die hiesige Batterietechnologie hält mit der chinesischen nicht Schritt, weil China die Kosten durch Subventionen und Massenproduktion massiv nach unten getrieben hat. Wir haben in Deutschland aber auch den Softwaretrend für Autos verschlafen. Eine erfolgreiche Wirtschaft kann durch gute Regierungspolitik unterstützt werden, aber am Ende kommt es darauf an, dass die Unternehmen innovativ sind und mit ihren Produkten überzeugen.

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Die Bürokratie ist aber schon auch ein Klumpschuh.

Ja, wir müssen unnötige Bürokratie abbauen. Viele Verfahren könnten deutlich vereinfacht werden, die Verwaltung müsste endlich durchgängig digitalisiert werden. Nebenbei, auch die hiesigen Unternehmen sind oft zu bürokratisch, insbesondere die Grosskonzerne, auch da könnte man einiges an Kosten einsparen. Wir müssen darüber diskutieren, warum die Arbeitskosten so hoch sind, warum die Produktivität nicht stärker steigt. Wir müssen auch darüber reden dürfen, dass wir womöglich zu lange an alten Arbeitsplätzen festhalten. Sind wir flexibel genug, auch mal Leute zu entlassen? Gerade in der Automobilindustrie ist diese Flexibilität dringend angezeigt.

<p>Schnitzer erwartet ab 2026 Wachstumsimpulse. Dazu brauche es aber einen «Hallo-wach-Moment».</p>

Schnitzer erwartet ab 2026 Wachstumsimpulse. Dazu brauche es aber einen «Hallo-wach-Moment».

Florian Generotzky für BILANZ
<p>Schnitzer erwartet ab 2026 Wachstumsimpulse. Dazu brauche es aber einen «Hallo-wach-Moment».</p>

Schnitzer erwartet ab 2026 Wachstumsimpulse. Dazu brauche es aber einen «Hallo-wach-Moment».

Florian Generotzky für BILANZ

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Stellenabbau in Deutschland und der Schweiz sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Die deutschen Arbeitnehmer sind gut geschützt.

Das ist so, und es ist verständlich, dass die Gewerkschaften alles tun, um das zu befördern. Auch die Regierungen der betroffenen Bundesländer haben kein Interesse an Entlassungen. Im Ergebnis führt diese Allianz von Sozialpartnern und Regierungen aber dazu, dass letztlich alle sehr lange am Bestehenden festhalten und notwendige Änderungen unterbleiben.

Fehlt der Mut für Neues?

Das würde ich unterschreiben. Ein Problem in Deutschland ist, dass wir keine Vision für den Wirtschaftsstandort der Zukunft haben, dass wir zu wenig auf Zukunftsfelder gesetzt haben. Das gilt für die Politik wie auch für die Unternehmen.

Verstellt der Stolz auf die deutsche Ingenieurskunst den Blick auf die künftigen Realitäten?

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Die deutsche Ingenieurskunst ist hervorragend. Aber das nützt wenig, wenn wir in anderen Bereichen nicht punkten, wenn wir zum Beispiel keine Plattformunternehmen haben. Genau sie beflügeln im Moment die USA. Die Kombination aus hohen Energiepreisen, wenig Fortschritt in der Produktivität, mangelnder Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland, in der Automobilindustrie, aber auch im Maschinenbau, hat man zu wenig ernst genommen.

Ein Wohlstandssymptom.

Ja. Wer schon ein funktionierendes Geschäftsmodell hat, ersetzt sich ungern selbst. Das gilt sowohl für Einzelunternehmen als auch für Deutschland insgesamt. Wir hatten in den letzten 20 Jahren ein sehr gut funktionierendes Geschäftsmodell. Während andere Länder stärker in den Dienstleistungssektor investiert haben, etwa Grossbritannien in den Finanzsektor oder eben die USA in Plattformunternehmen, hat Deutschland nach wie vor stark auf die Industrie gesetzt. Die grosse Sorge ist diejenige vor der Deindustrialisierung. Aber das ist nur bedingt die Zukunft, wie ein Blick in die USA zeigt.

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Das ist nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Problem.

Das stimmt, wobei Deutschland in den vergangenen 20 Jahren im Vergleich zu anderen Ländern stärker auf Industrie setzte und weniger in neue Technologien investierte.

Das klingt nicht eben rosig. Wo ganz konkret muss Deutschland ansetzen?

Es ist wichtig, einen «Hallo-wach-Moment» zu haben und zu sagen, so gehts nicht weiter.

Schwarz oder Weiss, Frau Schnitzer

★ Franken oder Euro? Da kann ich jetzt beim besten Willen nur den Euro wählen.
★ CDU oder SPD? Ich schulde meiner Unabhängigkeit, dass ich mich dazu nicht äussere.
★ BMW oder Mercedes? Keines von beiden. Ich fahre privat eine Familienkutsche von Ford. Das Preis-Leistungs-Verhältnis ist einfach besser.
★ «Financial Times» oder «Wall Street Journal»? «Financial Times».
★ Ehepaar- oder Individualbesteuerung?
Individualbesteuerung und das Ehegattensplitting abschaffen. Schon wegen der negativen Arbeitsanreize für Zweitverdiener, die durch das Ehegattensplitting entstehen.
★ München oder Mannheim? Das kann man doch nicht fragen. Natürlich die Quadrate-Stadt Mannheim, wo ich aufgewachsen bin.
★ Keynes oder Friedman? Keynes. Er wurde am Ende seines Lebens gefragt, ob er etwas hätte anders machen sollen. Seine Antwort: mehr Champagner trinken. Das spricht für ihn. Das soll mir nicht passieren.

Sie zitieren jeweils Churchill mit «Never waste a good crisis».

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Genau. Wir sind jetzt stark herausgefordert durch die Zollpolitik der USA, vielleicht noch stärker durch das Aufkündigen des transatlantischen Sicherheitsschutzschirms. Das heisst, wir müssen uns jetzt zusammenreissen und Dinge selbst machen, die wir bisher von anderen bekommen haben, wie etwa die Verteidigung. Wir sind viel zu abhängig geworden, können die Ukraine nicht wirklich sinnvoll in ihrer Verteidigung unterstützen, weil wir bestimmte Technologien gar nicht bieten können. In diesen Technologien müssen wir uns unabhängiger machen, und das könnte dann durchaus auch einen wirtschaftlichen Schub geben.

Ist diese Sichtweise in Deutschland vorhanden?

Bei der Reform der Schuldenbremse hat man gesagt, dass man jetzt Geld in die Hand nehmen müsse, um versäumte Investitionen in Verteidigung und Infrastruktur voranzutreiben. Das werte ich als positives Signal, nachdem man sich zuvor in dieser Frage lange bekämpft hatte. Ich gehe davon aus, dass vom geplanten Infrastruktur-Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro ein Wachstumseffekt ausgehen wird.

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Selbst angesichts der Trump’schen Zollpolitik?

Ohne die Trump’sche Zollpolitik würde es besser aussehen. Durch die Zollpolitik gibt es viel Unsicherheit, und das ist immer schlecht für die Wirtschaft. Aber spätestens im nächsten Jahr sollten die Investitionen wirken und die Wirtschaft wieder stärker ins Laufen kommen. Das werden wir an den Wachstumszahlen sehen.

Die Schweizer Autozulieferer hängen stark vom Zustand Deutschlands ab. Einige haben bereits Stellen abgebaut oder planen Standortverlagerungen. Wird das deutsche Investitionsprogramm unterstützen?

Schweizer Unternehmen wären noch härter von den angedrohten US-Zöllen betroffen als die deutschen. Insofern ist es wichtig, sich zu diversifizieren; nicht nur geografisch, sondern auch bei den Produkten. Einige Zulieferer in Deutschland orientieren sich jetzt schon Richtung Rüstungsindustrie, wo durchaus Potenzial besteht. Ich rechne aber damit, dass aus Deutschland Wachstumsimpulse auch für die Schweizer Industrie kommen werden. Wichtig ist zudem, dass wir innerhalb Europas näher zusammenrücken.

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Das heisst?

Wir müssen den europäischen Binnenmarkt noch einmal stärken. Die Handelsverflechtungen innerhalb Europas und mit neuen Handelspartnern, gerade vor dem Hintergrund der Abschottung der USA, müssen intensiviert werden. Das Potenzial ist da, gerade im Dienstleistungssektor, wo wir paneuropäisch zu wenig integriert sind, etwa mit Blick auf die regulatorische Situation. Das gilt auch für die Schweiz und die laufenden Verhandlungen mit der Europäischen Union. Es wäre an der Zeit, dieses Verhältnis zu kitten.

<p>Europa solle dagegenhalten, sagt Monika Schnitzer. Die einzige Sprache, die Trump verstehe, sei die Sprache der Stärke.</p>

Europa solle dagegenhalten, sagt Monika Schnitzer. Die einzige Sprache, die Trump verstehe, sei die Sprache der Stärke.

Florian Generotzky für BILANZ
<p>Europa solle dagegenhalten, sagt Monika Schnitzer. Die einzige Sprache, die Trump verstehe, sei die Sprache der Stärke.</p>

Europa solle dagegenhalten, sagt Monika Schnitzer. Die einzige Sprache, die Trump verstehe, sei die Sprache der Stärke.

Florian Generotzky für BILANZ

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Sie befürworten die Lockerung der Schuldenbremse, die Schweiz hält eisern daran fest.

Die Schuldenbremse ist ein sinnvolles Instrument, um zu verhindern, dass wir die künftigen Generationen zu stark belasten. In Zeiten wie den jetzigen muss sie indes gelockert werden können. Wir brauchen jetzt Geld, um in die Bereiche zu investieren, wo Deutschland in der Vergangenheit zu wenig ausgegeben hat, also für die Verteidigung und die Infrastrukur. Deshalb sind Brücken oder Bahn in marodem Zustand. Umso wichtiger ist, für das jetzige Schuldenpaket die notwendige Verbindlichkeit zu sichern: Wir müssen das Geld zukunftsorientiert ausgeben, für Investitionen und nicht für Konsum.

Bedeutet zukunftsorientiert auch Investitionen in den USA?

Das grösste Problem für die Unternehmen ist aktuell die Unsicherheit. Weiss man nicht, wie es weitergeht, dann hält man sich erst mal zurück mit Investitionen. Zölle werden verhängt, dann wieder ausgesetzt, vielleicht kommt ein Deal, vielleicht auch nicht. Selbst in den US-Verordnungen ist teilweise nicht klar, wie stark die US-Zölle erhöht wurden. Man fragt sich, ob die Administration Trump selbst genau weiss, was sie da gerade verhängt hat. Unternehmen werden versuchen, sich anzupassen, und produzieren womöglich etwas mehr in den USA. Am Ende wird mit dieser Zollpolitik einfach nur viel Geld versenkt, weil man Investitionen in eine andere Richtung lenkt, die man unter gewohnten Umständen nicht gewählt hätte. Oder man verpasst Chancen, weil man gar nicht investiert.

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Macht es Sinn, den Bückling zu machen und Investitionen in den USA zu tätigen im Wissen, dass diese Phase nach den Zwischenwahlen im November 2026 bereits wieder anders aussehen könnte?

Diese angedrohten reziproken Zölle sind absurd hoch und ökonomisch nicht rational, sie sind politisch motiviert. Wir dürfen uns politisch aber nicht verbiegen und sollten dagegenhalten – und zwar gemeinsam als EU. Wir und China sind die zwei relevantesten Wirtschaftsräume für die USA. Wir können mit Gegenzöllen antworten, oder wir nehmen uns Big Tech vor. Google, Apple, Meta und Co. könnten wir richtig ärgern. Und wenn wir das tun, dann wird das auch bei Trump aufschlagen.

Der Schuss könnte nach hinten losgehen.

Die Anti-Coercion-Regulierung, welche die EU verabschiedet hat, erlaubt, auf politische Nötigung zu reagieren. Wir könnten Werbung stärker regulieren, Steuern für bestimmte Dienstleistungen erhöhen oder bei Beschaffungen gewisse US-Konzerne nicht berücksichtigen. Europa könnte davon sogar profitieren. Das alles ist zulässig und könnte als Drohkulisse aufgebaut werden, sofern Verhandlungen nicht fruchten. Ich glaube, das ist die einzige Sprache, die US-Präsident Trump versteht. Die Sprache der Stärke.

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Die geopolitische Unsicherheit dürfte den Franken als Fluchtwährung, aber auch den Euro gegenüber dem Dollar stärken. Ihre Prognose?

Man muss sich tatsächlich fragen, ob der US-Dollar noch die Leitwährung der Zukunft ist. Euro und der Franken werden währungspolitisch künftig eine wichtigere Rolle spielen und wohl auch stärker nachgefragt werden. Das ist für die Exporte ungünstig, aber gleichzeitig sind halt auch unsere Importe dann nicht mehr ganz so teuer.

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