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ABB-Chef Rosengren verschlankt den Industriekonzern – eine Strategie mit Risiken

Nach neun Monaten hat ABB-Chef Björn Rosengren dem Industriekonzern seinen Stempel aufgedrückt. Sein Konzept ist simpel – und deswegen riskant.

Marc Kowalsky

Foto: Joseph Khakshouri 19.11.2020ABB CEO Björn Rosengren Beim Hauptsitz in OerlikonOerlikon (ZH)

ABB-Chef Björn Rosengren an einer Ladestation am Hauptsitz in Zürich-Oerlikon.

Joseph Khakshouri

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Wer von Björn Rosengren etwas über Kostendisziplin lernen will, muss sich nur anschauen, wie er seine Freizeit verbringt. In seiner Heimat an der schwedischen Westküste besitzt der ehemalige Marineoffizier ein zwölf Meter langes Segelschiff sowie ein Motorboot. Zudem ist er ein begeisterter Golfer (Handicap 16). Doch seit er Anfang des Jahres an den Zürichsee übersiedelte, hat er sich nie um einen Bootsplatz bemüht und kein einziges Mal mehr Golf gespielt. An Zeitmangel liegt es nicht, sondern an den Kosten. «Ich komme aus einem Land, wo Golf und Segeln erschwinglich sind», sagt der ABB-Chef, der pro Jahr ähnlich wie sein Vorgänger rund neun Millionen Franken pro Jahr verdienen dürfte.

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Stattdessen hat er ein neues, kostenloses Hobby für sich und seine Frau Cecilia entdeckt: E-Biking – sei es nahe dem Wohnort Meilen in den Hügeln der Pfannenstiel-Region, sei es in den Bergen um Klosters, wo er viele schwedische Freunde hat. «Dort gibt es wunderschöne Mountainbike-Routen», schwärmt Rosengren.

Ähnlich konsequent drückt er in seinem Konzern die Kosten: Seit seinem Amtsantritt am 1. März hat ABB 10 000 Arbeitsplätze abgebaut, 45 Standorte geschlossen und 200 verlustbringende Projekte gestoppt. Insgesamt 500 Millionen Franken wurden so eingespart, ein Jahr schneller als erwartet. Rosengren hat die Verschuldung um vier Milliarden reduziert und die Bilanz von Altlasten bereinigt.

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Zudem hat er gerade den Verkauf von 3 der 18 Sparten angekündigt, allesamt hochprofitabel, aber im Konzern eher Nebengeschäfte: die Sparte Getriebe (Mechanical Power Transmission), die 2010 mit der Akquisition der US-Firma Baldor kam, das Geschäft mit der Stromversorgung für Telekomanbieter (Power Conversion), das mit dem Kauf der amerikanischen General Electric Industrial Services (GEIS) 2017 bei ABB landete. Und, zum Leidwesen der Schweizer ABB-Traditionalisten, das 96  Jahre alte Geschäft mit Turboladern in Baden.

«Das Turbogeschäft wird ein besseres Leben ausserhalb von ABB haben»

Der ABB-Chef über den Verkauf des Turbogeschäfts, die Schrumpfkur in der Schweiz, Übernahmepläne und den Konzern in vier Jahren – das Interview lesen Sie hier.

Vor allem aber pusht Rosengren die Entscheidungsgewalt in die Sparten und damit näher zu den Kunden. Die 18 Spartenleiter geniessen nun weitgehende Freiheit, sind aber auch allein verantwortlich für ihre Ergebnisse. Sie können die Schuld nicht mehr auf die komplexe Matrixorganisation abschieben (sie wurde bereits letztes Jahr abgeschafft) und auch nicht mehr auf das Mikromanagement von Ex-CEO Ulrich Spiesshofer.

Es ist exakt das gleiche Rezept, das Rosengren – sehr erfolgreich – bei seinen vorherigen Arbeitgebern angewendet hatte, dem Industriekonzern Atlas Copco, dem Schiffsmotorenhersteller Wärtsilä und dem Maschinenbauer Sandvik. Genau dafür haben ihn die schwedischen Grossaktionäre im Verwaltungsrat, die Industriellenfamilie Wallenberg (12 Prozent) und der aktivistische Investor Cevian (5 Prozent), verpflichtet, während die Schweizer Seite um VR-Präsident Peter Voser eher einen Typ Satya Nadella bevorzugt hätte, der Microsoft neu erfunden hat.

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«Rosengren wurde geholt, damit ABB so funktioniert wie er, nicht er wie ABB.»

Er sei geholt worden, damit ABB so funktioniere wie er, nicht damit er so funktioniere wie ABB – mit diesem Argument kann Rosengren intern jegliche Kritik an seinen Plänen abblocken. Und so steht an der Konzernspitze nicht jemand, der Visionen hat, sondern der nüchtern Optimierung perfektioniert.

Rosengren sei «das Gegenteil von Spiesshofer»

Rosengren ist sehr bodenständig, weder selbstverliebt noch auf Aussendarstellung bedacht, «das Gegenteil von Spiesshofer», wie jemand vom Hauptsitz es ausdrückt. Mit einem simplen «Da bin ich» und den Rucksack über der Schulter stellte er sich am ersten Arbeitstag bei den erwartungsvollen Mitarbeitern in Oerlikon und Baden vor; zur Anfahrt wählte er wie immer die S-Bahn. «Ich mache ABB nicht wieder grossartig, ich bin nicht so wichtig», sagt er selber: «Die Führungskräfte von ABB sind es.» Den Spruch hört man häufiger bei Konzernchefs, Rosengren nimmt man ihn ab.

Als er sein Konzept intern das erste Mal vorstellte, kam es gut an, weil jeder es verstand: Den Inhalt von Präsentationen reduziert Rosengren auf das Essenzielle, er benutzt eine einfache Sprache – ganz anders als Ex-Berater Spiesshofer mit seinem Management-Slang. In der Sache ist der 61-Jährige jedoch knallhart.

Verantwortlichkeit, Transparenz, Tempo sind Rosengrens drei Mantras, die er immer wieder predigt. In der Ansprache ist er klar (einen «No Bullshit Guy» nennt ihn ein Mitarbeiter) und bisweilen brutal schnörkellos. Etwa wenn er sagt: «Wenn jemand in einer operativen Position keinen Wert für unsere Kunden generiert, dann fragen wir uns: Brauchen wir diese Person?»

In seinen ersten neun Monaten im Amt hat Rosengren das getan, was man heutzutage als CEO so tut: Er hat für ABB einen Unternehmenszweck («Purpose») definiert. Er hat ein neues, strikteres Nachhaltigkeitsprogramm aufgelegt (das bisherige läuft heuer aus). Und er will Diversity pushen: Unter allen Führungskräften beträgt die Frauenquote 13 Prozent, Rosengren will sie bis 2030 verdoppeln. Unter den 23 Topmanagern mit Ergebnisverantwortung ist gar nur eine Frau – «viel zu wenig», weiss er selber. Er hätte freilich selbst für Abhilfe sorgen können: 4 der 18 Spartenchefs hat er bereits ersetzt – wieder durch Männer.

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Ein Set von 15 immer gleichen Kennzahlen

Auf Consultants, die früher bei ABB ein- und ausgingen, verzichtet Rosengren. Wenn man Berater an Bord hat, hat die Firma in der Vergangenheit was falsch gemacht, so seine Überzeugung. Stattdessen ist sein mit Abstand wichtigstes Führungsmittel ein Set von 15 immer gleichen Kennzahlen (Key Performance Indicators, KPI). An ihnen misst er jedes Quartal jede einzelne Abteilung, egal ob sie Roboterstrassen baut, Datacenter steuert oder Turbolader repariert.

Es sind ausschliesslich Finanzzahlen – Bruttomarge, Cashflow, Ausstände, Umsatz pro Mitarbeiter etc. Rosengren hatte sie auch schon bei seinen früheren Arbeitgebern angewendet. Entscheidend ist für ihn dabei der Trend, also wie sich die Zahlen zum Vorquartal verändern. Entsprechend hat er auch die Jahresbudgets abgeschafft: Die Planung wird nun jedes Vierteljahr rollend für die nächsten fünf Quartale angepasst.

Die Welt auf 15 Zahlen zu vereinfachen, kommt nicht überall gut an, doch darüber lässt Rosengren nicht mit sich diskutieren: «Sie werden lernen, die KPI zu lieben», beschied er kurz angebunden jenen Führungskräften auch bei ABB, die anzweifelten, dass es Sinn macht, alles und jeden über denselben Kamm zu scheren. Dabei war ABB seit der Gründung getrieben von einer stolzen Ingenieurskultur, die letzten beiden Chefs Joe Hogan (studierter Chipdesigner) und Ulrich Spiesshofer (Wirtschaftsingenieur und Gadget-Freak) befeuerten dieses Ethos zusätzlich.

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««Jetzt sind die Erbsenzähler an der Macht.»»

ABB-Manager

«Jetzt sind die Erbsenzähler an der Macht», sagt ein hoher ABB-Manager. Vor allem kommen andere Rationalitäten zu kurz: Weiche Faktoren wie Kundenzufriedenheit, Image oder die Attraktivität als Arbeitgeber werden mit den 15 Finanzzahlen gar nicht erfasst. ABB lässt dazu zwar regelmässig Umfragen durchführen, und Rosengren und seine vier Bereichsleiter Tarak Mehta, Peter Terwiesch, Morten Wierod und Sami Atiya fragen persönlich die Zufriedenheit der wichtigen Kunden ab. Doch die Ergebnisse finden keinen Eingang in die Scorecard der 18 Spartenleiter und sind damit kein Motivator.

R&D bedeutet erst mal nur Kosten

Noch grösser ist die Gefahr, dass auf diese Weise die Forschung leidet. Zuletzt flossen konzernweit rund 4,7 Prozent des Umsatzes in R&D, Rosengren will die Spartenleiter ermutigen, das Verhältnis zu erhöhen: «Wenn die Entwicklungsausgaben zurückgehen, leuchten bei uns die roten Warnlampen», sagt er. «Dann gehen wir zu dieser Sparte und fragen: Was zum Teufel tut ihr?» Doch auf Forschungsergebnisse sind die Spartenleiter mit Rosengrens KPI-System ebenfalls nicht incentiviert; R&D bedeutet in ihrer Scorecard erst mal nur Kosten.

Die zentrale Entwicklungsabteilung hat der neue Chef dafür aufgehoben, Forschungschef Bazmi Husain in Pension geschickt. Auch Chief Digital Officer Guido Jouret musste gehen, das Entwicklungszentrum im Silicon Valley wurde um ein Drittel (etwa 20 Mitarbeiter) eingedampft. Die anderen seines einst über 200-köpfigen Teams suchen nun in den Sparten eine neue Rolle.

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Von ABB Technology Ventures kommen zukünftig ebenfalls keine disruptiven Innovationen: Die Abteilung wurde halbiert und darf nicht mehr in Technologie-Start-ups investieren. Auch dies sollen nun die Sparten tun – was im neuen Scorecard-System unwahrscheinlich ist, weil sich derartige Beteiligungen meist erst nach Jahren auszahlen. Eine riskante Wette, die Rosengren da eingeht: Die Unternehmensfriedhöfe sind voll von Konzernen, die einen wichtigen Technologiesprung verpasst haben.

Robotik-Sparte schwächelt

Dass er genug Geduld aufbringt, auch komplexere Probleme zu lösen, bezweifeln manche. «Hätten Spiesshofer und Hogan so getickt wie er, würde es die Roboter-Sparte nicht mehr geben», sagt ein ehemaliger Kadermann. Die war jahrelang ein ABB-Sorgenkind, der Verwaltungsrat hatte bereits einen Verkauf erwogen, als Spiesshofer sich bei seiner Ernennung zum CEO 2013 ausbedang, auch eine Sanierung zu prüfen. Drei Jahre später war Robotik hochprofitabel und der «Rockstar im Portfolio» (Spiesshofer).

Derzeit schwächelt die Sparte wegen der Pandemie-Unsicherheit und wegen der Turbulenzen, durch welche die Automobilhersteller als mit Abstand grösste Kundengruppe gehen. «Nächstes Jahr werden wir ein starkes Comeback sehen», ist Rosengren überzeugt.

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Auch im wichtigsten Markt, den USA («bisher eine unserer Achillesfersen») muss ABB dringend zulegen – die Fortschritte bei GEIS machen hier Hoffnung. Ansonsten ist der Konzern gut positioniert für die Zukunft: Im boomenden Geschäft der Ladestationen für Elektroautos belegt die Firma Platz zwei auf dem Weltmarkt. Die Nachfrage nach Elektrizität steigt doppelt so schnell wie nach anderen Energien. Ein Drittel davon wird für Motoren verwendet, wo ABB mit ihrer Motion-Sparte stark ist. Und in China, das nach der Krise wieder Wachstum zeigt, ist der Konzern gut aufgestellt.

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ABB gilt in der Branche als «hässliches Entlein»

Doch die Firma hat in den letzten zehn Jahren zu wenig aus dieser Ausgangslage gemacht und sogar Wert vernichtet: Die Gewinne pro Aktie sind seit 2009 jährlich im Schnitt um sechs Prozent gesunken. Deshalb gilt ABB in der Branche als «hässliches Entlein» («Financial Times»).

Rosengren will nun wieder das Wachstum forcieren, zwei Drittel davon organisch, ein Drittel durch Akquisitionen. Das freilich gilt nur für jene Sparten, die befriedigende Margen erzielen: 13 bis 16 Prozent, so definiert er den Zielkorridor. Den erreichen heute nur 37 Prozent des Umsatzes oder die Hälfte der Geschäftsfelder. Die anderen müssen sich erst stabilisieren, bevor sie auf Wachstum schalten dürfen. Gesamthaft soll der Konzern dereinst 15 Prozent Marge erzielen. Letztes Jahr waren es 11,9.

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In vielerlei Hinsicht hat Rosengren ABB bereits nach neun Monaten seinen Stempel aufgedrückt. Nun müssen die Ergebnisse folgen. «Wir müssen 2021 Fortschritte zeigen, sonst haben wir ein Problem», weiss er selber. Maximal vier Jahre Zeit hat Rosengren, sein Werk zu vollenden, dann erreicht er das Rentenalter. Auf seiner letzten beruflichen Station wird er also sein Programm weiter durchziehen, so, wie er es immer schon getan hat: unprätentiös, nüchtern, kompromisslos.

Nur in Sachen Golf ist der ABB-Chef jetzt doch schwach geworden. Per 1. Januar werden Björn und Cecilia Rosengren Mitglieder im Golfpark Zürichsee in Nuolen SZ. Mit einer Eintrittsgebühr von 25 000 Franken und einem Jahresbeitrag von 2900 Franken ist er einer der günstigeren Clubs im Grossraum Zürich. «Das tut zwar weh, aber wir wollen wieder Golf spielen», sagt er: «Das wollen wir uns leisten.»

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