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Ein Leben ohne Vorbilder ist bei höheren sozialen Lebewesen undenkbar. Wo lassen sich würdige Vorbilder aufspüren? Eine Gebrauchsanleitung.
Christiane Binder
Keanu Reeves, Meghan Markle, Roger Federer, Kim Kardashian und Boris Becker (v.l.): Nur Promis oder auch Vorbilder?
Imago, Getty Images / Bildmontage BonanzaWerbung
Ein frei lebender Orang-Utan hockt am Ufer eines Gewässers und schäumt, ein Stück Seife in der Hand, seinen Arm ein. Die Kamera des Tierfilmers schwenkt zu einer Forschungsstation in Sichtweite des Primaten, auf der anderen Seeseite. Der Affe hat die Menschen, die dort baden und sich waschen, beobachtet und ein Stück Seife geklaut.
Ein Mensch als Vor-Bild für einen Orang-Utan? Ja, geht. Allerdings nur als Imitation. Intellektuell kann das Tier die imitierte Fertigkeit nicht verorten und sie nicht weiterentwickeln. Es entsteht kein kreativer Prozess. Es ist ein Lernen ins Leere.
Die Szene ist dennoch aufschlussreich. Sie zeigt, dass der Menschenaffe das Interesse und die Fähigkeit hat, sich durch Beobachtung etwas anzueignen. Er kann lernen – ein Naturgesetz, ein Ur-Trieb, ein Motor der Evolution. Ohne Lernen kein Fortschritt.
Ein Leben ohne Vorbilder ist bei höheren sozialen Lebewesen undenkbar. Der Instinkt allein reicht nicht zum Überleben. Ein Jungstorch findet aus sich heraus nicht den Weg von Europa in die nordafrikanischen Winterquartiere. Bei seinem ersten Flug ist er auf die Ortskenntnis der Altvögel angewiesen. Ein Löwenbaby kann ohne Anleitung durchs Rudel kein überlebensfähiger Beutegreifer werden. Ein junger Orca-Raubwal lernt die ausgefeilte Jagdtechnik durch Familienmitglieder, die das schon vorbildlich können.
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Das Superhirn der Evolution mit seinen hochkomplexen Verhaltensstrategien und hoch entwickelten Kulturtechniken ist auf Vorbilder in einem Mass angewiesen wie keine andere Tierart. Ein Menschen-Kleinkind weiss und kann noch nichts, was es zu einem vollwertigen Mitglied seiner Gemeinschaft macht: nicht allein essen, nicht Brei löffeln und nicht Zähne putzen. Es weiss weder, dass es im Winter eine Mütze braucht, noch dass Heulen die schlechteste Möglichkeit ist, Aggressionen zu artikulieren. Sprache, Lesen, Rechnen, Malen, sämtliche manuellen Fertigkeiten, die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs, alles, was er braucht, um sich im Leben zu behaupten oder sich hervorzutun, muss der Mensch lebenslang lernen und verbessern. Das geht nur durch positive Motivation: durch Vorbilder.
Ein Vorbild haben? Klingt nicht gerade modern. Einem Vorbild «folgt» man oder schaut zu ihm auf. Aber Folgen wird heute als Follower-Sein auf den sozialen Medien interpretiert. Aufschauen passt schon gar nicht. Das hiesse, sich selbst kleiner zu machen als gefühlt, und das passt nicht zum Zeitgeist. Der bejubelt das Ich und stellt es auf einen Sockel. Schon die Erziehung konditioniert Kinder, ihr Ego zu einem Riesen zu entwickeln: «Du bist toll», «du bist genau richtig, so wie du bist», «lass dir nichts gefallen».
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Das gilt in der Schule, erst recht im Erwerbsleben. In vielen Betrieben macht sich latent die Grundhaltung breit: «Um mich herum nur Pfeifen, wer soll mir da noch was beibringen?» Erfahrene Berufsleute beklagen sich über grossspurige Berufsneulinge, die «sich nichts sagen lassen und alles besser wissen».
Die sozialen Medien leben von Tausenden selbst ernannter Vorbilder. Manche sind gut, andere Scharlatane. Followers haben sie alle.
Im Widerspruch dazu nimmt das Beraterwesen ungeheure Ausmasse an. Der Bedarf an bezahlter Nachhilfe im Fach «Leben» scheint ins Uferlose zu wachsen. Heerscharen von Coaches, Mentoren, Trainern raten, unterstützen, verbessern. Der Hunger nach Unterweisung, Anregung, Orientierung ist gewaltig.
Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter Ratgeberbüchern. Seminare, Vorträge und Workshops zur Beseitigung von Selbstdefiziten sind ein florierender Wirtschaftszweig. Die sozialen Medien leben von Tausenden selbst ernannter Vorbilder, die grossartige Körper haben, mustergültige Ernährungsgewohnheiten, ihre Partnerschaftsangelegenheiten mühelos regeln und sich als Musterbeispiele inszenieren, die spielend Seelenleiden, Kalziummangel oder Verstopfung in den Griff bekommen. Manche sind gut, andere Scharlatane. Followers haben sie alle.
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Das Vorbild ist kein Fall für die Mottenkiste – es heisst nur anders. Etwa Role Model, Rollenmodell. Eine Umverpackung, alter Wein in neuen Schläuchen. In der Karriereberatung scheint die Autosuggestion mit dem Fokus auf die eigene Power nicht mehr das Mass aller Dinge zu sein. Bis heute wirkt zwar die Raikov-Methode in die Lerntheorie hinein. Der russische Psychologe Vladimir Raikov fand 1976 heraus, dass ein Gehirn sein Selbstbild durch Training verändern und sich dem Verhalten eines Vorbilds angleichen lässt. Den Raikov-Effekt, auch Technik des «geborgten Genies» genannt, entdeckte er, indem er seine Klienten in Tiefenhypnose versetzte und ihnen suggerierte, eine Koryphäe der Geschichte zu sein. Tatsächlich entwickelten manche der Hypnotisierten geniale Fertigkeiten nach der Vorlage ihrer Vorbilder. In der Folgezeit trichterten durch volle Säle tourende Erfolgstrainer ihrem Publikum ein, wie sie sich selbst hochpeitschen sollten. Am Morgen vor dem Spiegel dreimal «Ich bin ein Genie» oder «Chakka, du schaffst es!» zu schreien, sollte Wunder wirken.
Vorbild 4: Selma Blair und ihr bewegtes Lebens
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Heute klingt das banal. Derlei Ego-Booster-Mätzchen mögen taugen für einen Turbo-Auftritt, aber nachhaltig wirken sie nicht. Moderne Karriereberater empfehlen wieder das Vorbild. Sie raten sogar dazu, sich an mehreren guten Beispielen zu orientieren. Der eine Kollege kann besser organisieren, dann lerne von ihm. Die andere Kollegin ist super im Delegieren – guck dir ihre Tricks ab. Sogar abschreckende Beispiele können, als «Anti-Vorbilder», von Nutzen sein. Ein Chef brüllt ständig herum, eine Vorgesetzte erstickt jeden Motivationsansatz im Keim – man selbst wird es besser machen. Denn Menschen haben die angeborene Fähigkeit, sich in ein soziales Netzwerk einzuflechten, im Guten wie im Schlechten, und passen sich unbewusst ihrem Umfeld an. In einem verkommenen Wohnviertel werden fast alle ihre alten Autoreifen im Garten deponieren, wie der Nachbar. In einem sauberen Quartier bringen sie das Altmaterial zum Recyceln, wie ihre Mitbewohner. Niemand ist eine Insel.
Wo wären wir ohne die Motivation und Inspiration durch andere, die eine Sache besser machen oder beherrschen als wir selbst? Der gesamte Kunst- und Kulturbetrieb würde ohne Vorbilder und Neuinterpreten auf der Stelle treten. Niemand liest mehr Bücher als Leute, die selbst Bücher schreiben. Die Musik lebt davon, dass sich Musiker permanent mit dem Schaffen anderer Musiker beschäftigen. Maler besuchen die Ausstellungen anderer Maler. Ohne Vorbilder kein Fortschritt, das gilt erst recht für die Wissenschaft.
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Nicht nur im Fachlichen, auch im Privatbereich braucht es Vorbilder, Orientierungspunkte, Motivationsstützen, die helfen, eigene Ziele zu erreichen.
Auflistungen von Vorbildern präsentieren durchweg Leute wie Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Bill Gates, Stephen Hawking, Sophie Scholl, in neuerer Zeit, so umstritten sie inzwischen ist, auch Greta Thunberg. Big Names, die Super-Liga der Vorbilder. Ihnen im Alltag nachzustreben, ist schwierig bis unmöglich. Immerhin, als fiktive Vorbilder wirken sie wie Sterne, die herunterleuchten und einen Abglanz werfen auf das, was Menschen zu leisten imstande sind, wenn die Umstände passen, und können ein indirekter Ansporn sein. Ein Barack Obama ist sicher ein Leitstern für viele Schwarze. Greta Thunberg hat als Einzelperson eine ganze Jugendbewegung ins Leben gerufen.
Die Figur einer Kim Kardashian lässt sich hinoperieren. Keanu Reeves’ Langhaarschnitt ist leicht kopierbar. Aber es bleibt bei der Nachahmung.
Genies tauchen in den Listen der berühmten Vorbilder nicht auf. Sie erzeugen durch ihr herausragendes Talent Bewunderung, aber ein brauchbares, nachahmbares Vorbild können sie nicht abgeben. Es mag gelingen, van Goghs Sonnenblumen nachzumalen, aber die Gefühlswelt des Maler-Giganten, die aus seinem Werk spricht, ist seine eigene, nicht teilbar und nicht nachahmbar. Ähnlich verhält es sich mit Stars aus der Sport- oder Unterhaltungswelt. Hollywood-Celebrities mögen zwar Könner auf Leinwand und Bühne sein. Aber im Privatleben schrecken arrogantes Auftreten, exzentrische Lebensführung oder zerstörte Familienverhältnisse ab. Wenn, dann können sie höchstens kopiert werden. Die Figur einer Kim Kardashian lässt sich hinoperieren. Der Langhaarschnitt von Keanu Reeves ist problemlos zu kopieren. Aber es bleibt bei der Nachahmung. Analog dem Orang-Utan, der sich den Arm «wäscht». Es kommt kein kreativer Prozess in Gang.
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Ein Vorbild, soll es ideal sein, muss auch eine menschliche Strahlkraft haben. Man könnte es auch Sympathiefaktor nennen. Mut, Zivilcourage, Anstand, Tatkraft, Durchhaltewillen, Geduld. Etwas, das sich nicht in Erfolgszahlen messen lässt. Boris Becker war Deutschlands Grösster im Tennis. Seine finanziellen und amourösen Katastrophen nach seiner Karriere machten ihn jedoch zum Anti-Vorbild. Roger Federer mit seinem mustergültigen Lebenswandel wird nicht nur in der Schweiz als Vorbild wahrgenommen. Die Xhaka-Brüder mögen gute, einer sogar ein begnadeter Fussballer sein. Doch sie haben ihr Temperament nicht im Griff. Ein Elon Musk ist mit Sicherheit ein Unternehmer-Visionär. Aber in «Berühmte Vorbilder»-Listen taucht er nicht auf. Der Mann ist zu überheblich und unberechenbar, um als gutes Vorbild durchzugehen.
Vorbild 5: Tom Selleck, der unbeirrte Schnauzer
Herzogin Meghan Markle hätte es dank des Privilegs ihrer Einheirat ins britische Königshaus zum Vorbild bringen können. Doch sie machte den gutmütigen Ehemann zum Pantoffelhelden und hetzte penetrant gegen die Verwandtschaft. Jetzt bewirbt sie in den sozialen Medien Marmelade. Im Gegensatz dazu legte Michelle Obama im Weissen Haus Gemüsegärten an, brachte unterprivilegierten Kindern bei, wie sie sich gesund ernähren können, und wirkt zudem wie das Zentrum einer heilen Familie. Sie ist für viele ein perfektes Rollenmodell.
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Im Alltag sind Menschen mit nahbaren Vorbildern aus ihrem eigenen normalen Leben besser dran. Das können die Eltern sein, die es geschafft haben, sich nicht scheiden zu lassen. Das können Lehrer sein, die geduldig aufmuntern und Spass am Lernstoff vermitteln. Das kann der Schulkollege sein, der regelmässig seine Hausaufgaben macht. Oder die Freundin, die mutig eine Krankheit überstanden und eine Selbsthilfegruppe gegründet hat, oder die Arbeitskollegin, deren Schreibtisch immer aufgeräumt ist.
Vorbilder – Nachahmer – Verbesserer. Als vor 3500 Jahren Töpfer die zündende Idee hatten, dass ihre Scheiben auch als Rad zur Fortbewegung taugten, brauchten sie andere, die ihnen folgten und die Erfindung weiterentwickelten. Ohne sie als Vorbilder würden wir uns noch immer zu Fuss fortbewegen. Ohne Vorbilder geht nichts voran.
Dieser Artikel ist im Bonanza, dem Magazin der BILANZ, erschienen (Sommer 2025).
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