Guten Tag,
Fussballkommentator Marcel Reif und Skirennfahrer Bernhard Russi über selbstbestimmtes Leben, Älterwerden in Würde und die Kunst des Aufhörens.
David Torcasso
Zwei Legenden im Zwiegespräch: Bernhard Russi (l.) und Marcel Reif.
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Marcel Reif: Vor 100 Jahren haben wir uns das letzte Mal gesehen.
Bernhard Russi: Nicht ganz 100. Es sind 30 Jahre. Oder 28, um es genau zu nehmen. Das war 1997 in Beaver Creek.
Marcel Reif: Ich war damals im Trainingslager vor der WM. Dann habe ich Alberto Tomba eines Abends mein Auto zur Verfügung gestellt, weil er noch einen amourösen Besuch im Dorf machen wollte. Am nächsten Tag stand das Auto wieder da, Schlüssel an der Réception und dazu ein riesiges Poster: «Grazie! Per Marcello il più bello.» Die nächtliche Fahrt hatte sich für Tomba in meinem Lancia Delta offensichtlich gelohnt. Das war meine intensivste Berührung mit dem alpinen Skisport. Aber du warst schon damals eine Legende, auch für mich.
Bernhard Russi: Für mich bist du halt ganz einfach gesagt Fussball. Ich wäre eigentlich lieber Fussballer geworden als Skifahrer. Oder sagen wir so: Ich wäre, glaube ich, der bessere Fussballer gewesen als Skifahrer.
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Marcel Reif: Hör auf! Schon wieder diese übertriebene Schweizer Bescheidenheit.
Bernhard Russi: Trainer-Legende Timo Konietzka hat mir immer gesagt: «Wieso fährst du Ski? Spiel doch bei uns.» Er hat am Donnerstag immer morgens ein Training für Barbesitzer, Zuhälter und sonstige Gestalten im Letzigrund organisiert. Und da war ich dabei. Morgens 10 Uhr, ohne Anmeldung, wer wollte, konnte kommen.
Marcel Reif: Das wusste ich nicht …
Bernhard Russi: Fussball ist für uns immer das angenehmste Training gewesen. Wir sind mittags vom Skitraining runtergekommen, und nachmittags stand Konditionstraining an. Da haben wir gesagt: «Können wir nicht einfach zwei Stunden kicken?» Das beste Training, das du als Skifahrer haben kannst. Es gibt nichts Besseres – Zickzackbewegungen, Sprint und so weiter.
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Marcel Reif: Bei mir war es umgekehrt. Profifussball ja oder nein? Ich habe in allen Jugendmannschaften in Kaiserslautern gespielt. Aber irgendwann habe ich festgestellt: Es wird nicht reichen, um Weltfussballer zu werden. Und das wäre mein Anspruch gewesen.
Bernhard Russi: Hast du das selbst gemerkt, oder hat man es dir gesagt?
Marcel Reif: Ich habe es gespürt. Die anderen haben gesagt: «Du bist ein Schönwetterspieler. Wenn wir 1:0 führen, bist du der Zampano, wenn wir 0:1 hinten sind, bist du nicht da.» Mir fehlten die deutschen Gene, das Kampfzeug. Ich konnte zwar schön spielen, aber ich wusste: Ich werde nie der Beste. Ich hatte aber diesen Ehrgeiz. Wenn Leute irgendwas machen, dann muss es sehr, sehr gut sein. An diesem Punkt habe ich entschieden: Ich will Journalist werden. Das ist sinnvoller.
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Bernhard Russi: Ich habe eine gewisse Lebensphilosophie: Das Leben besteht aus verschiedenen Abschnitten. Wenn du das Glück hast, diese Abschnitte selbst zu definieren, ist das grossartig. Nach meiner Hochbauzeichnerlehre stand ich vor der Entscheidung: Technikum und Architekt werden oder weiter Ski fahren? Das war ein fertiger Abschnitt – Schule, Ausbildung vorbei. Ab jetzt Ski fahren, solange es geht. Diese Entscheidung musste ich mit 20 Jahren treffen.
Marcel Reif: Warum hast du auf dem Höhepunkt aufgehört?
Bernhard Russi: In dem Moment, als ich mich gegen das Technikum entschied, hatte ich noch keine klare Vorstellung, ob ich es schaffen würde. Aber ich sagte mir: Ich will es zumindest probieren. Ich will es wissen. Im Skifahren hast du oft Glück – blauer Himmel, keine Wolken, die richtige Startnummer –, und plötzlich wirst du aus dem Nichts Weltmeister. Das ist bei mir passiert. Ich bin aus dem Nichts Weltmeister geworden, einfach durch glückliche Umstände.
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Marcel Reif: Glück ist, wo der Zufall auf Bereitschaft trifft. Und du hattest die Bereitschaft.
Bernhard Russi (76) war Anfang der Siebzigerjahre Olympiasieger und Weltmeister in der Abfahrt. Nach seinem Rücktritt wirkte er als Werbebotschafter und Co-Kommentator sowie Analyst fürs Schweizer Fernsehen. Zudem baute er zahlreiche Abfahrtspisten auf der ganzen Welt.
Marcel Reif (75) gilt als einer der versiertesten und bekanntesten Fussballkommentatoren im deutschsprachigen Raum. Derzeit tritt er beim Swisscom-Sender Blue+ als Fussballexperte auf. Zudem betreibt er für die «Bild»-Zeitung den Podcast «Reif ist live». Reif ist seit 2013 Schweizer.
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Bernhard Russi: Ich habe mir immer gesagt: Ich will nie mein letztes Rennen fahren. Ich will nicht am Start oben stehen und denken: Das ist das letzte Mal. Und das habe ich in meiner Karriere geschafft. Ich habe nach einer Weltmeisterschaft in Garmisch einfach aufgehört und gesagt: Fertig, Schluss, das wars. Zwischen zwei roten Ampeln, während meine Frau Auto fuhr.
Marcel Reif: Gut, du warst dein eigener Herr und Meister. Bei mir war es 2016, als ich beim Einfahren auf dem Parkplatz vor einem Bundesligastadion merkte: Es reicht. Da kommt der erste Parkwächter: «Hallo, Herr Reif, wie geht es Ihnen?» Dann der nächste, der Ticketkontrolleur, die Kollegen – alle grüssen dich. Da dachte ich: Wie lange willst du das noch machen? Interessiert dich das Spiel heute überhaupt? Ich hatte immer den Grundsatz: Was war das beste Spiel? Das wird das nächste Spiel am Samstag. Aber irgendwann merkte ich: Es ist nicht mehr das beste Spiel, sondern jetzt muss ich das heute auch noch machen.
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Bernhard Russi: Und dann hast du als Kommentator aufgehört?
Marcel Reif: Ja. Ich habe das Champions-League-Finale in Mailand zum letzten Spiel erklärt. Anders als du konnte ich nicht blitzartig aufhören, ich musste meinen Vertrag erfüllen. Ich bin nach dem letzten Spiel einfach vom Reporterplatz aufgestanden, habe noch gesagt: Ach ja, und tschüss – und habe geheult wie ein kleiner Junge.
Bernhard Russi: Haben alle gewusst, dass es das letzte Spiel ist?
Marcel Reif: Ja, die Kollegen auf der Tribüne haben schon gewartet. Das war vorher kommuniziert worden. Sie haben mir so lange auf die Schulter geklopft, bis ich völlig fertig war. Dann bin ich allein die Treppen runter, habe mich wieder gefasst, sitze im Auto, und bing – eine SMS von Ottmar Hitzfeld: «Eine grosse Karriere geht zu Ende.» Da habe ich wieder eine halbe Minute geheult. Im Restaurant mit der Familie dasselbe – eine konzertierte Aktion, bis alle geweint haben. Die fanden: Es geht eine Epoche zu Ende, da kann man nicht einfach Pizza bestellen und einen Salat essen.
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Bernhard Russi: Ich war 38 Jahre lang als Co-Kommentator aktiv. Mein erster Kollege beim Fernsehen hat mir gesagt: «Da sind zwei Knöpfe. Das ist meiner, und das ist deiner. Und wenn deiner auf Grün ist, darfst du reden. Wenn meiner auf Grün ist, rede ich. Aber die Knöpfe bediene ich.» Mit Matthias Hüppi war das dann anders. Es waren tolle Jahre, bis dann die Weltmeisterschaft in St. Moritz 2017 kam. Wir wussten, das ist unser letzter gemeinsamer Einsatz. Ich hatte meine Familie eingeladen, die kamen mit dem Helikopter, und das letzte Rennen war ein Slalom, bei dem Marcel Hirscher Weltmeister wurde, mein Lieblingsskifahrer. Es hat alles gepasst. Dann ist es mir irgendwann nur noch runtergelaufen.
Marcel Reif: Wirklich? So weit ging es bei dir auch?
Bernhard Russi: Ich bin so schlimm. Ich bin nah am Wasser gebaut. Ich heule bei jeder Nationalhymne.
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Marcel Reif: Ich habe die tschechische Nationalhymne bei mir auf der Playlist, weil die so emotional ist. Wenn mir nach Heulen zumute ist, höre ich die.
Bernhard Russi: Das Duo mit Matthias wurde jeden Tag besser. Wir hatten ein blindes Verständnis füreinander. Unglaublich. Wir haben fast nie am Abend vor einem Rennen zusammen gegessen – damit wir nicht über etwas reden, was morgen passieren könnte und es dann am nächsten Tag zitieren würden.
Marcel Reif: Weisst du, einmal habe ich etwas gesagt, und ich dachte mir: Die Formulierung habe ich doch das letzte Mal auch schon benutzt – aber egal, merkt eh keiner. Als ich das zum zweiten Mal zu mir selbst sagte, wusste ich: Ich mache jetzt genau das, was ich mir geschworen hast, nie zu machen.
Bernhard Russi: Jetzt wiederholt es sich …
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Marcel Reif: Eine der Disziplinen ist Selbstbespiegelung, was auch mit Eitelkeit zusammenhängt. Eitelkeit ist für mich nie ein Schimpfwort gewesen, sondern immer Antrieb. Ich bin ein ziemlich eitler Kerl, und Arroganz muss man sich verdienen. Arroganz schafft Distanz. Damit hast du deine Ruhe, wenn du öffentlich unterwegs bist. Aber niemand darf sagen: «Das ist ein arrogantes, dummes Arschloch», sondern: «Das ist ein arroganter Sack, aber der kann seinen Job.» Ich habe in 40 Jahren Kommentieren und über 1500 Spielen vielleicht vier, fünf fachliche Fehler gemacht. Das meine ich nicht überheblich. Aber ich habe meinen Job gekonnt. Disziplin, Ehrgeiz, Eitelkeit. Und Demut vor der Sache.
Bernhard Russi: Ich würde eigentlich gerne sagen, dass ich nicht eitel bin. Aber das Gewinnen ist schon schön. Wo Eitelkeit vielleicht aufkommt, ist der Moment, wo du dich eines Tages entscheidest, auf eine Bühne zu gehen, dahin, wo Licht ist. Ob du Fussballer bist oder Skirennfahrer, Fernsehkommentator oder Co-Kommentator – du entscheidest: Ich gehe auf eine Bühne. Da oben ist Licht, und du wirst von überall angestrahlt. Und dann kommt das Resultat, der Applaus, das Schulterklopfen. Jeder, der auf eine Bühne geht, sucht das.
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Marcel Reif: Natürlich!
Bernhard Russi: Darum darf ich eigentlich nicht sagen, dass ich nicht eitel bin. Ich bin sehr selbstkritisch mir gegenüber. Ich höre mich nicht gern.
Marcel Reif: Ich höre mich auch nie noch mal. Wenn du behauptest: «Du hast aber das und das gesagt», dann erwidere ich dir: «Pass auf, ich werde das jetzt nachprüfen. Und wenn ich recht behalte, werde ich dich verfolgen bis ans Ende der Welt.» Ich hasse es, mein Zeug noch mal zu hören.
Bernhard Russi: Mir geht es genauso. Ich kann mich nicht hören. Ich kann mich auch nicht sehen. Als in der Schweiz grosse Werbeplakate zum Beispiel für Subaru mit meinem Gesicht hingen, konnte ich sie nicht anschauen. Aber es gibt Momente, in denen man sich selbst bewusst werden will: Bin ich gut oder nicht? Oder, noch wichtiger: Bin ich zufrieden mit dem, was ich mache? Das kann ich persönlich nur im Spiegel sehen.
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Selbstkritik und Selbstbespiegelung sind für Marcel Reif (l.) und Bernhard Russi zentral.
Paolo Dutto für BILANZSelbstkritik und Selbstbespiegelung sind für Marcel Reif (l.) und Bernhard Russi zentral.
Paolo Dutto für BILANZMarcel Reif: Ich bin sehr früh meine eigene Instanz geworden. Ich hatte das Glück, nicht für meine Karriere kämpfen zu müssen. Ich wurde immer gefragt. Das ist eine grosse Gnade, und dafür bin ich dankbar. Es gibt keine Leichen auf meinem Weg. Ich habe niemandem die Karriere zerstört. Ich bin fanatisch kritisch mit mir selbst.
Bernhard Russi: Aber Präsenz oder Bekanntheit ist für mich kein Kriterium. Es gibt einen Haufen Ex-Kommentatoren, Ex-Spitzensportler, von denen man nicht weiss, was sie machen, weil sie einfach nicht auf der kommunikativen Schiene geblieben sind. Sie haben sich zurückgezogen in ihre Region, in ihre Heimat, in ihr Dorf, in ihren Beruf. Am Ende entscheidet die Zufriedenheit. Und die kannst nur du selbst bestimmen. Es können nicht Leute von aussen über dich bestimmen. Erfolgreich bist du nur, wenn der Blick in den Spiegel stimmt. Wenn du zufrieden bist.
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Marcel Reif: Selbstbestimmtheit ist ein sehr, sehr wichtiger Punkt. Du hast vorhin gesagt, du hast mit Glück gewonnen. Unsinn! Es braucht erstens Qualität und zweitens etwas, das ich nicht definieren kann – Charisma. Das, was du hast, ist Charisma. Und das kannst du weder lernen noch vor dem Spiegel üben.
Bernhard Russi: Unser Umfeld beeinflusst uns natürlich auch, und da meine ich auch, ob man in Zürich geboren wurde oder in Andermatt, ob dein Vater ein Naturbauer ist oder etwas anderes. Mein Vater hat mir, als ich mit sieben Jahren mein erstes Skirennen gewonnen habe – er war Zielrichter – eine wichtige Lektion erteilt. Es war ein Massenstart. 27 Buben an einem Hang. Ich gewann mit einem halben Meter Vorsprung und sagte beim Abendessen: «Hast du gesehen? Die können ja nichts!» Da habe ich eine Ohrfeige gekriegt. Mein Vater sagte: «Das machen wir nicht. Beweise mir erst, dass du auch verlieren kannst!»
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Marcel Reif: Ich kann mich nicht erinnern, wann mein Vater mal gesagt hätte, etwas sei gut an meinem Fussballspiel gewesen. Immer gab es etwas zu kritisieren. Also: Anerkennung, Lob war mir immer wichtig, auch heute noch. Aber letztlich kannst du nur deinen Job machen und musst wissen, dass es auch – und wohl vor allem – ein Beruf ist und nicht nur Talent.
Selbstbestimmtheit heisst für Russi und Reif, selbst über ihren Kalender zu verfügen.
Paolo Dutto für BILANZSelbstbestimmtheit heisst für Russi und Reif, selbst über ihren Kalender zu verfügen.
Paolo Dutto für BILANZBernhard Russi: Die Zeit ist das Entscheidende. Ich lebe jetzt und hier. Der Moment ist das Entscheidende. Ich glaube, egal in welcher Phase des Lebens du bist, musst du immer versuchen, ans Limit zu gehen.
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Marcel Reif: Warum immer ans Limit?
Bernhard Russi: Weil der Mensch dieses Gen hat. Und weil dort die Befriedigung ist. Mein allergrösster Luxus ist, am Morgen aufzuwachen, rauszulaufen bei blauem Himmel und 30 Zentimetern Neuschnee – und nichts steht im Kalender. Der zweitgrösste Luxus ist: Alles, was im Kalender steht, habe ich selbst eingetragen.
Marcel Reif: Ich nehme aus beidem. Ich geniesse das Wochenende, wenn nichts im Kalender steht. Dann kann ich entscheiden: Heute schaue ich Fussball, wenn ich will, und wenn nicht, dann lasse ich es. Es sei denn, meine Frau will noch was wegarbeiten zu Hause und ihre Ruhe haben. Dann setzt sie mich vor den Fernseher und sagt: «Schau! Da ist das Bällchen.» Zweite Liga, England. Andererseits gibt mir ein Treffen wie dieses mit dir heute – obwohl ich früh aufstehen muss – so viel Kraft und Energie. Auch wenn ich jetzt gleich nach Barcelona muss. Bis ich aus dem Stadion raus bin, ist es ein Uhr nachts, und morgen gehts weiter nach Berlin.
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Bernhard Russi: Aber du hast den Termin selbst reingeschrieben, oder?
Marcel Reif: Ja, das ist Selbstbestimmung – und zwar Selbstbestimmung, noch etwas zu tun. Nicht Selbstbestimmung, auf den Tod zu warten. Die anderen sitzen zu Hause und machen nichts.
Bernhard Russi: Ich bin ein Fatalist, das war ich immer. Ich glaube, sonst kannst du kein Abfahrer sein. Wenn du nicht fatalistisch bist, geht das nicht. Du stehst am Start und weisst, in einer Minute könntest du tot sein, trotzdem fährst du los. Das machst du 20 Jahre lang.
Marcel Reif: Jetzt wird es sehr lebensphilosophisch, aber da bin ich dabei. Ich folge dir, auch wenn ich es nicht Fatalismus nenne. Das ist eine Erkenntnis: Du wirst das Ende nicht selbst bestimmen. Es wird kommen. Nur bin ich, je älter ich werde, feiger geworden. Ich fahre nicht mehr Ski, weil ich nicht gut genug Ski gefahren bin, um mir jetzt die Knochen zu brechen.
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Bernhard Russi: Wer würde mich danach noch pflegen?
Marcel Reif: Genau. Die Skifahrer sind sowieso eine eigene Spezies. Ich bin ja damals mit dir oben gestanden in Beaver Creek. Da dachte ich: Hier muss ich weg. Die sind verrückt. Die Piste sah aus wie Glas. Alles, wobei ich Mut bräuchte, mache ich nicht mehr. Dieses Limit brauche ich nicht. Machst du noch solche Sachen, die grenzwertig sind?
Bernhard Russi: Ja, grenzwertig schon. Ich bin auch Bergsteiger respektive Freeclimber. Und jetzt komme ich wieder zum Limit. Egal in welcher Phase deines Lebens du bist – du musst immer versuchen, ans Limit zu gehen.
Marcel Reif: Aber wenn ich weiss, dass ich nicht gut genug Ski fahre, weiss ich, wo mein Limit ist. Das muss ich erkennen.
Bernhard Russi: Klar, die Grenze verschiebt sich natürlich. Beim Klettern gibt es Wertungen. Ich weiss, dass ich einmal maximal 6C geklettert bin, und jetzt weiss ich, dass ein 6A, das sind zwei Stufen weniger, mein Limit sein könnte. Aber das heisst nicht, dass ich es nicht mehr angehe. Ich muss es zuerst probieren, bis ich wirklich weiss: Das ist das Limit.
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Marcel Reif: Und dann erfährst du, dass es doch über dem Limit war. Dann tut es halt weh, dann ist da was offen, aber dann geht es weiter.
Bernhard Russi: Wenn du über Alter redest, dann kommen sofort Zahlen: 50, 75, 77. Nicht dass ich das verdrängen will, aber das ist nicht realistisch, sondern konstruiert. Es gibt ein grosses Ziel: in deinem Leben immer wissen, wo das Limit ist. Und wenn du wissen willst, wo das Limit ist, musst du es auch suchen, und dann musst du ab und zu darüber hinausgehen, sonst weisst du gar nicht, wo es ist. Ich bin vorgestern mit dem Rad wieder auf den Oberalp gefahren, mit dem Gedanken, ich fahre gemütlich auf den Pass. Bei der zweiten Kurve habe ich auf die Uhr geschaut. Ich weiss genau, wie lange ich zur zweiten Kurve brauche. Ich habe mir gesagt: Hey, jetzt musst du ein bisschen Gas geben, sonst brauchst du mehr als eine Stunde auf den Oberalp.
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Marcel Reif: Ich bin jetzt 75 und habe immer noch Lust. Ich mache es nicht mehr wegen des Geldes. Wenn das der einzige Antrieb ist, wird es irgendwann würdelos, weil du dich immer billiger verkaufen musst. Und zweitens mache ich es nicht, weil mir langweilig wäre oder ich zu Hause nichts anderes zu tun hätte. Ich mache es gerne. Morgens aufstehen und gerne leben – ich lebe so, wie ich jetzt lebe, gerne. Ich habe noch nie so gerne gelebt.
Bernhard Russi: Was mich an deinem Wesen im Studio fasziniert: Gelassenheit ist ganz wichtig. Ich habe nie das Gefühl, du suchst oder sagst etwas, um jemandem zu gefallen. Weder dem Zuhörer noch den Aktiven. Und das ist heikel, oder? Weil die Aktiven ja schon wissen, was du über sie erzählst. Aber das ist richtig, und das bewundere ich, dass das so ungeschminkt daherkommt. Das ist die Gnade des Alters. Auch wenn es mal fünf Minuten Pause gibt, wo du kein Wort sagst – das gefällt mir auch sehr.
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Marcel Reif: Das ist die Gnade der frühen Geburt. Weil du spürst, dass du lebst. Ich spüre das Leben, und ich geniesse das Leben. Natürlich kommt hin und wieder der Gedanke an die Endlichkeit. Das ist logisch. Meine Söhne sind 23, 25 und 48. Bei denen tickt die Uhr anders. Immer, wenn es mir zu bunt wird, sage ich: Jungs, da bin ich schon unter den Radieschen, wenn dieser Moment kommt. Dann sind sie empört. Die möchten das ewige Leben für mich. Aber für mich ist jedes Limit, das ich erreiche, ein Beweis: Ich spüre das Leben, und ich geniesse es. Da muss man niemandem mehr gefallen. Wir hatten gute Lehrer – dein Vater mit der Ohrfeige, meiner mit seinem knappen Lob. Weisst du, was wirklich das Schönste im Leben ist?
Bernhard Russi: Die Kinder! Ist das nicht das Schönste, was im Leben passiert? Die Enkel. Das sind Wurzeln.
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Marcel Reif: Ja, absolut. Sie sind die Wurzeln, die wir beide gesucht haben – auf ganz unterschiedliche Weise. Wenn die Kleinen sagen: «Opa, du bist der Beste!»
Bernhard Russi: Es gibt keinen besseren Applaus. In dem Moment hast du alles vergessen.
Dieser Artikel ist im Bonanza, einem Magazin der BILANZ, erschienen (Juli 2025).
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